Herzenhören
gebracht. Für einen Brief war er zu dick, ich öffnete ihn. Er enthielt fünf alte handcolorierte Fotos, die mich an Postkarten aus den Zwanzigerjahren erinnerten. Auf den Rückseiten waren mit Bleistift Daten notiert. Das erste Bild stammte aus dem Jahr 1949. Eine junge Frau saß im Lotussitz vor einer hellen Wand. Sie trug eine rote Jacke und einen roten Longy, ihr schwarzes Haar hatte sie hoch gebunden, eine gelbe Blüte steckte darin. Die Andeutung eines Lächelns. Das musste Mi Mi sein. U Ba hatte nicht übertrieben. Sie war von einer Anmut, einer Schönheit, die mich tief betroffen machte, und in ihren Zügen lag eine Ruhe, die mich auf eine sonderbare Art berührte. Ihr Blick war so intensiv, als würde sie mich, und nur mich, anschauen. Neben ihr hockte ein acht-, vielleicht neunjähriger Junge in einem weißen Hemd. Der Sohn einer ihrer Brüder? Er starrte mit ernstem Gesicht in die Kamera.
Die Aufnahmen waren im Abstand von jeweils zehn Jahren entstanden und zeigten Mi Mi in immer der gleichen Pose. Auf dem zweiten Foto wirkte sie kaum älter. Hinter ihr stand ein junger Mann, der seine Hände auf ihre Schultern gelegt hatte. Beide lächelten auf eine ähnliche Weise, offen und freundlich, aber mit einer deutlichen Spur Melancholie.
Auf dem nächsten Bild waren ihr die Jahre schon ein bisschen anzusehen, ohne dass das ihrer Ausstrahlung etwas hätte anhaben können. Im Gegenteil, die ältere Mi Mi fand ich noch schöner. Ich kannte aus New York keine Frauen, die nicht versucht hätten, ihr Alter mit Kosmetik und der Hilfe von Chirurgen zu bekämpfen oder zumindest zu verschleiern. Mi Mi sah aus wie jemand, der in Würde alterte.
Wieder war ein Mann mit auf dem Foto.
Die letzte Aufnahme war 1989 entstanden, zwei Jahre vor der Rückkehr meines Vaters. Mi Mi hatte abgenommen, sie sah müde aus und nicht gesund. Neben ihr saß U Ba. Ich erkannte ihn erst auf den zweiten Blick. Er sah jünger aus als heute. Ich breitete die Fotos vor mir aus und studierte noch einmal jedes einzelne gründlich.
Mein Herz erkannte die Ähnlichkeit zuerst. Es schlug auf einmal so heftig, dass es schmerzte. Ich brauchte Sekunden, bis ich den ungeheuerlichen Verdacht denken und in Worte fassen konnte. Mein Blick flog von einem Foto zum anderen. Der Mann auf dem Bild von 1969 war ebenfalls U Ba. Der zehn Jahre zuvor vermutlich auch, und die Ähnlichkeit mit dem Kind neben Mi Mi war nicht zu verkennen. Ich rechnete. Ich sah U Ba vor mir. Seine kräftige Nase. Sein Lachen. Seine sanfte Stimme. Die Art, wie er sich am Kopf kratzte. Ich wusste, an wen er mich erinnerte. Warum hat er mir nichts gesagt? Hatte er Angst, ich würde ihm nicht glauben? Oder täuschte ich mich? Bildete ich mir die Ähnlichkeit mit meinem Vater ein?
Ich wollte auf der Stelle zu U Ba. Er war nicht zu Hause. Eine Nachbarin sagte, er sei ins Dorf gegangen. Es war bereits später Nachmittag. Ich lief die Hauptstraße auf und ab und fragte nach ihm. Niemand hatte ihn gesehen.
Im Teehaus war er schon gewesen. Normalerweise käme er noch einmal wieder, erklärte der Kellner, der mich erkannte. Doch heute, da sei er sich sicher, würde er nicht noch einmal zurückkehren. Heute sei der Fünfzehnte; Tin Win und Mi Mi seien an einem Fünfzehnten gestorben, und seit über vier Jahren würden die Menschen in Kalaw an jedem Fünfzehnten eines Monats in den Abendstunden des Liebespaars gedenken. Vermutlich sei U Ba bereits auf dem Weg zu Mi Mis Haus. Ich solle einfach die Gleise überqueren und den Menschen folgen.
Es war nicht zu verfehlen. Bereits vom Bahnhof aus sah ich die Prozession, die sich den Hügel hinaufzog. Frauen balancierten Schüsseln und Körbe mit Bananen, Mangos und Papayas auf ihren Köpfen. Männer trugen Kerzen, Räucherstäbchen und Blumen. Das Rot, Blau und Grün ihrer Longys, das frische Weiß ihrer Hemden und Jacken strahlte in der Abendsonne. Auf der Hälfte des Weges hörte ich Kinderstimmen. Sie sangen dieselbe Melodie, die vor ein paar Tagen aus dem Kloster in den Bergen herabgeklungen war. Das Bimmeln von Glöckchen, die der Wind bewegte, begleitete sie.
Mi Mis Haus erkannte ich nicht wieder. Es war mit bunten Fähnchen geschmückt, unter dem Dachsims hing eine Kette kleiner Glocken. Der Hof und die Veranda waren voller Menschen, die mich lächelnd begrüßten. Vorsichtig bahnte ich mir einen Weg. Neben der Veranda saßen die singenden Kinder, und viele der Erwachsenen summten leise mit. Fortwährend stiegen Menschen die Treppe hinauf und
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