Herzenhören
Erinnerung hatte. Am Ende war er mir so nah, dass ich mir seinen Tod nicht mehr vorstellen konnte. Er war am Leben. Ich würde ihn wiedersehen. Ich saß neben U Ba auf der Treppe und war mir sicher, sie waren im Haus. Ihr hörte ihr Flüstern. Ihre Stimmen.
Das Ende der Geschichte. Ich wollte aufstehen und hineingehen. Ich wollte sie begrüßen und meinen Vater wieder in den Arm nehmen. Es vergingen Sekunden, bis ich begriff, was U Ba gesagt hatte. Als ob ich den letzten Teil seiner Erzählung gar nicht wahrgenommen hätte. Wir gingen nicht ins Haus. Ich wollte es nicht von innen sehen. Nicht jetzt.
U Ba brachte mich zurück zu seinem Hof. Auf seinem Sofa schlief ich vor Erschöpfung ein.
Die nächsten beiden Tage verbrachte ich in einem Sessel in seiner Bibliothek und schaute ihm beim Restaurieren seiner Bücher zu. Wir sprachen nicht viel. Er saß über seinen Schreibtisch gebeugt, in die Arbeit vertieft. Studierte Buchseiten. Tunkte Papierschnipsel in Kleber. Zeichnete As und Os nach. Widersetzte sich allen Gesetzen der Effizienz.
Die Gelassenheit, mit der er seiner Routine nachging, beruhigte mich. Er stellte keine Fragen und forderte nichts. Zuweilen blickte er über seinen Brillenrand zu mir herüber und lächelte. Ich fühlte mich in seiner Nähe wohl und beschützt, auch ohne viele Worte.
Am Morgen des dritten Tages gingen wir zusammen auf den Markt. Ich hatte angeboten, für ihn zu kochen. So wie ich es für Freunde in Manhattan tat. Er war überrascht, aber schien sich zu freuen. Wir kauften Reis, Gemüse, Kräuter und Gewürze. Ich wollte ein vegetarisches Curry machen, das ich mit einer indischen Freundin in New York manchmal kochte. Ich fragte ihn nach seinem Kartoffelschälmesser. Er verstand nicht, was ich meinte. Er hatte ein Messer. Und das war stumpf.
Ich hatte noch nie auf offenem Feuer gekocht. Der Reis brannte an. Das Gemüse kochte über. Das Wasser löschte die Flammen. Geduldig entfachte er ein neues.
Es schmeckte ihm trotzdem. Behauptete er.
Wir hockten im Schneidersitz auf seinem Sofa und aßen. Das Kochen hatte mich abgelenkt. Jetzt kehrte die Traurigkeit zurück.
»Haben Sie geglaubt, Sie würden ihn wiedersehen?«, fragte er. Ich nickte.
»Das tut mir Leid, es ist meine Schuld. Ich habe Ihnen falsche Hoffnungen gemacht.«
»Nein«, widersprach ich. »Im Gegenteil. Ihre Erzählungen haben ihn mir so nahe gebracht, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass er nicht mehr am Leben ist. Es ist so endgültig. Ich konnte nicht Abschied nehmen von ihm. Nicht in New York. Nicht in Kalaw. Das tut weh. Diese Art von Schmerz kannte ich nicht.«
U Ba sagte nichts.
»Lebt Ihr Vater noch?«, fragte ich nach einer Pause.
»Nein. Er ist vor einigen Jahren gestorben.«
»War er krank?«
»Meine Eltern waren alt, für birmanische Verhältnisse sogar sehr alt.«
»Hat ihr Tod Ihr Leben verändert?«
U Ba überlegte. »Ich habe sehr viel Zeit mit meiner Mutter verbracht, also bin ich jetzt mehr allein. Sonst hat sich nicht viel verändert.«
»Wie lange haben Sie gebraucht, um darüber hinwegzukommen?«
»Darüber hinweg? Ich weiß nicht, ob ich es so ausdrücken würde. Wenn wir über etwas hinwegkommen, gehen wir weiter, und es liegt bald hinter uns. Lassen wir die Toten zurück oder nehmen wir sie mit? Ich glaube, wir nehmen sie mit. Sie begleiten uns. Sie bleiben bei uns, nur in anderer Form. Wir müssen lernen, mit ihnen und ihrem Tod zu leben. Das hat in meinem Fall ein paar Tage gedauert.«
»Nur ein paar Tage?«
»Als ich begriff, dass ich sie nicht verloren hatte, ging es mir schnell besser. Ich denke jeden Tag an sie. Ich überlege, was sie in bestimmten Momenten sagen würden. Ich frage sie um Rat, selbst heute noch, in einem Alter, wo es bald an der Zeit ist, an meinen eigenen Tod zu denken.« Er nahm noch etwas Reis und fuhr fort: »Um meine Eltern musste ich nicht trauern. Sie waren alt und müde und wollten nicht mehr. Sie hatten ihre Leben gelebt. Das Sterben war für sie keine Qual. Sie hatten keine Schmerzen. Ich bin überzeugt, dass sie in dem Augenblick, in dem ihre Herzen aufhörten zu schlagen, glücklich waren. Gibt es einen schöneren Tod?«
»Vielleicht muss man fünfundfünfzig Jahre alt sein, um so denken zu können.«
»Vielleicht. Wenn man jung ist, ist es schwieriger. Es hat lange gedauert, bis ich den Tod meiner Frau akzeptieren konnte. Sie war nicht alt, noch keine dreißig. Wir hatten gerade dieses Haus gebaut und waren sehr glücklich
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