Herzensach - Roman
hatten, sonst wäre Thomas Timber kaum ihr Bürgermeister, dachte Jakob.
Er war zurückgeblieben, um die Hütte zu verschließen (Schadensbegrenzung für den Tischler?), doch er fand keinen Schlüssel. Dagegen fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Im hinteren Teil der Hütte, einem Raum mit Bett und gemütlicher Sitzecke, lagen Fotos auf dem Tisch, die offensichtlich Timbers Plastiken unter anderem Namen zeigten. Stahmo Brimte nannte er sich. Jakob erkannte sofort, daß der Tischler die Buchstaben seines Namens für das Pseudonym verwendet hatte. An den Bildern hing ein Textentwurf, der die Pornographie zur Kunst erklären wollte: »... mit seinen handwerklich präzisen, detailverliebten Annäherungen an gesellschaftliche Tabuzonen reduziert Brimte die menschlichen Antriebskräfte auf ihren Ursprung. Mit der Reduktion auf das Geschlecht werden Brimtes Plastiken zu geschundenen Ikonen der Konsumzeit. Mit dem scheinbaren Idyll der Pornographie produziert er Betrachter-Irritationen und übt damit radikale Kritik an unserem Umgang mit Sex als Konsum und hält uns den Spiegel eigener Verantwortlichkeit vor.
Selten ist es einem Künstler mittels simpler Provokation und perfekter Technik gelungen, die bewußte Abwesenheit von Kunst als das eigentlich Künstlerische darzustellen und uns damit etwas aus der Frühzeit der Kunstgeschichte zurückzubringen, dessen Verlust wir noch nicht bemerkt hatten. Die nur noch imaginär erscheinende Kunst wird zur Fata Morgana in einer von Funktionalität (Trieb – Sex – Konsum) bestimmten Zeit.
Stahmo Brimtes zurückgezogene Arbeits- und Lebensweise steht im Einklang mit seiner Kunst. Die Anonymität ist es, die seinem Werk dient, eben geradewegs – samt klassischem Material – vom Aspekt der Provokation direkt zum unbekannten Urmenschen in der Höhle von Lascaux, zu einer bildhauerischen Annihilation führt. Bewußt will, ja muß Brimte hinter dem Werk zurückstehen .
Vielleicht handelte es sich doch um Kunst? Jakob war irritiert. Was immer es war, Katharinas Meinung über Männer hatte es nur bestärkt. Es war keine Kunst. Jakob wußte es genau, denn er hatte den Tischler selbst in einer verdächtigen Situation erlebt. Es gab genug Journalisten, die für ein paar Mark bereit waren, alles zu verbiegen und zu Kunst zu erklären. Diese Gebilde stellten die Ausgeburten eines perversen Gehirns dar. Keine Kunst. Ein Handwerker, zweifellos ein Handwerker, mit nichts als abartigem Sex im Kopf. Unterlag er jetzt jenen Irritationen, von denen im Text die Rede gewesen war? Also doch Kunst. Nein. Keine Kunst. Wer weiß, wie Katharina in ihrer Kindheit und als Jugendliche unter den Phantasien des Tischlers hatte leiden müssen? Ihre Männerfeindlichkeit konnte nur ein Produkt ihrer Erziehung sein. Hier war des Rätsels Lösung zu suchen. Keine Kunst. Und wer weiß, welche Erinnerungen diese Plastiken in ihr geweckt hatten? Ihre Worte vorhin erschienen ihm nun bedrohlich, als wollte sie ihrem Pflegevater weitere Gliedmaßen abschneiden. Kein Kunststück. Er mußte sie daran hindern, sich durch unüberlegte Handlungen ins Unglück zu stürzen. Und zugleich mußte er einen Weg finden, ihr zu zeigen, daß nicht alle Männer so waren wie ihr Pflegevater. Eine Kunst.
Vielleicht war es an der Zeit, ihr sein Schicksal zu offenbaren, ihr all das zu gestehen, was er aus Furcht niemandem, nicht einmal seinen besten Freunden offenbart hatte. (Schicksal, mein Gott, Schicksal?). Viele wußten zwar, daß er einen Flugzeugabsturz in Südamerika überlebt hatte. Was dort wirklich mit ihm geschehen war, wie sehr es sein Leben verändert, ihn geradezu zu einem vollkommen anderen Menschen gemacht hatte, der sich nur unter der alten, geflickten Haut verbarg, wagte er oft nicht einmal sich selbst einzugestehen. (Wahrheit, mein Gott, Wahrheit?) Katharina allerdings müßte es überzeugen. Er war ihr ähnlicher, als sie ahnte.
Warum hatte er sie allein gehen lassen? Hastig schloß er Fensterläden und Tür und eilte Katharina nach. Am Waldrand hielt er inne und betrachtete irritiert den Boden zwischen den Birken, war sich nicht sicher, ob ihm nur das Mondlicht einen Weg vorgaukelte. Er rief sie, ohne Antwort zu bekommen. Der Weg verlor sich zwischen den enger stehenden Bäumen, aber er sah den Damm des Fahrweges. Er zwängte sich durch das Gestrüpp und lief wieder schneller. Als er an der Straße anlangte, die Lichter des Dorfes schimmern sah, wurde ihm bewußt, daß Katharina wahrscheinlich einen anderen
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