Herzensach - Roman
man in Herzensach mehr Furcht als Liebe zu Gott.
An diesem Samstag waren gegen zwanzig Uhr bereits sieben Gäste versammelt. Fassungslos beobachtete der Wirt, wie sich innerhalb der nächsten beiden Stunden die Zahl mehr als verdoppelte und sogar Mitglieder der Heilwasserrunde kamen und ihr Hinterzimmer besetzten. Doch der Zustrom ging auch nach zweiundzwanzig Uhr noch weiter. Seit drei Jahren war die Gastwirtschaft nicht mehr so voll gewesen, sah man einmal von den beiden Beerdigungsfeiern ab. Peter Wischberg hatte alle Hände voll zu tun, zumal auch noch zwei spezielle Lieferanten ausgerechnet an diesem Abend ihr Material loswerden wollten und mit einem Lastwagen in den Hinterhof fuhren. Er holte seine Mutter, damit sie das Bier zapfte, und öffnete die Hintertür zum Lagerraum. Doch er überwachte das Ausladen nicht, man würde am nächsten Tag begutachten, zählen und abrechnen, die beiden sollten nur am Schluß die Tür wieder fest schließen.
Die Neugier trieb den Wirt eilig in die Gaststube zurück. Seinen Gästen gegenüber ließ er sich jedoch seine Verwunderung über den Andrang nicht anmerken. Er dachte, es sei besser, so zu tun, als wäre die Gaststube jeden Abend so gefüllt, um damit die seltenen Gäste anzureizen, häufiger zu kommen. Gleichzeitig versuchte er an allen Tischen, bei allen Gesprächen ein Ohr zu haben, denn noch immer hatte er das Gefühl, es gebe einen Anlaß für das Gedränge, den er nicht mitbekommen habe. Doch soweit er die Gespräche registrierte, handelten sie von unterschiedlichen, aber ihm bekannten Themen.
Die Neuigkeiten machten die Runde: Die Geschichte des verlorenen Daumens wurde mit einer Mischung aus Mitleid und Schadenfreude kolportiert (Fraktion: Wozu brauchen wir überhaupt einen Bürgermeister?), auf den Tod Maria Glasers trank man Schnaps (Fraktion: Mehr Gründe für Schnäpse!), über Wilhelm Webers Schwein im Dorfteich wurde gewitzelt. An mehreren Tischen hielt man die damit möglicherweise einhergehende Attraktivität des Dorfes für schädlich (Fraktion: Fremde raus aus Herzensach!). An diesem Punkt hielt es der Wirt für angebracht, einzugreifen und eine kurze Rede für den Tourismus (Ein-Mann-Fraktion) und den damit einhergehenden Reichtum für Herzensach zu halten. Er konnte sie nicht zu Ende bringen, denn seine Gäste unterbrachen ihn mit Zwischenrufen, er wolle ja nur für sich selber sorgen und von ihnen unabhängig werden, er sei undankbar und wolle Streit und Zwietracht unter die Bevölkerung säen. In einem Augenblick vollkommener Stille stand einer der Einheimischen auf und forderte, den Studenten nicht länger zu dulden, da der Fremde an aller Unruhe schuld sei.
Viele nickten, doch es wurde kein weiteres gemeinsames Thema daraus; an den Tischen entzündeten sich unterschiedlichste Gespräche, zumal weitere seltene Gäste gekommen waren, unter ihnen Jürgen Vietel, den der Wirt noch nie bei sich gesehen hatte. Er wollte den Gutsverwalter als hochinteressante Informationsquelle sofort bevorzugt behandeln und ihm einen Platz an der Theke freimachen, doch Jürgen Vietel winkte ab und setzte sich zu zweien seiner Arbeiter. Denen war es offensichtlich unangenehm, bis sich der Verwalter mit einem obszönen Witz gemein machte.
Da einige Herzensacher sogar Essen bestellten, scheuchte Luise Wischberg ihre Enkeltochter vom geliebten Fernseher. Die Sechzehnjährige bezog mit professionellen, aber mürrischen Bewegungen Stellung hinter dem Zapfhahn, wischte dabei mit ihren dicken, nackten Armen Bier- und Wasserpfützen von den Messingplatten, als wäre ihre Haut die Gummileiste eines Fensterreinigers. Die Mutter des Wirts ging in die Küche, bereitete Würstchen, halbe Hähnchen und Schinkenbrote.
Peter Wischberg ließ sich trotz seiner Behinderung die Bedienung der Gäste nicht nehmen, mit vollem Tablett hinkte er durch das Lokal, setzte sich dabei immer wieder an einen der Tische, um am Gespräch teilzunehmen oder um ihm neuen Schwung zu verleihen. Daß viele Gespräche verstummten oder das Thema gewechselt wurde, weil er sich dazusetzte, bemerkte er nicht. Mit Eifer und allmählich sich rötendem Kopf versah er die Rolle, die er für die seine hielt.
Die Gruppe im Hinterzimmer war inzwischen fast vollzählig. Man verschloß die Tür zum Gastraum und verlangte von Peter Wischberg, das Heilwasser zu servieren. Dieser hob irritiert die Brauen, denn gerade heute hatten ihn, angesichts des in Trance Gefallenen, einige gemaßregelt, er gehe zu großzügig damit
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