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Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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jetzt wirst du wahrscheinlich gleich über mich herfallen, weil du glaubst, mit diesen Worten das Recht dazu erworben zu haben.« Sie trat einen Schritt zur Seite, als wolle sie die Flucht vor ihm ergreifen. Jakob schüttelte den Kopf. Es machte keinen Sinn, ihr zu erklären, daß er niemals etwas gegen ihren Willen tun würde. Sie glaubte ihm einfach nicht.
    Sie rannte auf die Hütte zu. Die Tür an der Seite schwang im Wind hin und her. Auch die Fensterläden standen offen. »Er hat nicht abgeschlossen. Es muß also hier passiert sein!«
    »Hat er nicht gesagt, wo es passiert ist?«
    »Ich habe gar nicht mit ihm gesprochen.«
    Sie betrat die Hütte, suchte ein Licht. Sie stieß gegen etwas und fluchte. Jakob folgte ihr vorsichtig und tastete sich an der Wand entlang. Er hatte Angst, auf den Daumen zu treten. Das Mondlicht war schwach, strahlte nur auf eine Werkbank. Katharina entdeckte eine Tischlampe darauf. Sie schaltete sie ein, schob sie nach vorn, so daß sie den mit Spänen bedeckten Boden beleuchtete. Es waren Blutspuren zu sehen. Sie kniete sich nieder und durchkämmte die Späne mit ihren Fingern. Er bewunderte ihre Furchtlosigkeit. Für ihn war der Gedanke, den abgeschnittenen Daumen zu finden, eine Horrorvorstellung. Es würde ihn Überwindung kosten, ihn anzufassen.
    »Ich hab ihn.« Sie hob etwas triumphierend in die Höhe, in dem Jakob allerdings keinen Daumen erkannte. Sie rannte damit hinaus, und er folgte ihr. Doch sie lief nicht zurück, sondern hinunter zum Wasser.
    »Wo willst du hin?« Er blieb bei der Hütte stehen.
    Ihre Gestalt hob sich gegen den See ganz klar ab. Sie wirkte sehr dünn und zerbrechlich. Ihre Kleidung erschien gegen das leuchtende Wasser fast durchsichtig. Ein wenig hatte sie recht, seine Sehnsucht, sie zu berühren, war stark, sehr stark. (Jetzt ist mal Schluß mit den heimlichen Gedanken!)
    »Was machst du?« rief er.
    Sie hob den Arm und schleuderte den Daumen weit in den See hinaus. Er sah das Wasser aufspritzen, konnte aber nicht erkennen, ob der Daumen schwamm oder versank.
    Jetzt verstand er ihr Verhalten. Sie hatte nie vorgehabt, das Glied zurückzubringen. Sie haßte ihren Vater und wollte verhindern, daß man ihm den Daumen wieder annähte. Sie wollte ihn bestrafen. Sie hockte sich auf den schmalen Strand.
    Jakob ging zurück in die Hütte, um zu sehen, wie das Unglück passiert war. Jetzt fand er den Schalter für die Deckenbeleuchtung. Die Leuchtstoffröhren zuckten mehrmals und ließen schließlich mit schmerzender Helligkeit eine Reihe von Plastiken erkennen. Jakob ging an ihnen mit wachsendem Erstaunen entlang, dann sprang er zurück, löschte alle Lichter. Vielleicht war das, was er da gesehen hatte, Kunst. Er wußte es nicht, aber er wußte, er mußte verhindern, daß Katharina die Arbeiten des Tischlers sah. Doch gerade als er die Tür zu verschließen suchte, stand das Mädchen hinter ihm.
    »Ich will sehen, was er darin immer gemacht hat.«
    »Laß uns lieber zurückgehen.«
    »Ich will das sehen. Er hat mir nie gesagt, was er hier macht.«
    »Ach, du weißt es doch.«
    Jakob stellte sich vor die Tür. »Warum hast du seinen Daumen in den See geworfen?«
    »Weißt du, was ein Tischler ohne Daumen wert ist?«
    »Nein.«
    »Für fast alle Werkzeuge braucht man vor allem den Daumen.«
    Sie schob ihn zur Seite, öffnete die Tür. »Warum hast du das Licht schon ausgemacht?«
    »Katharina, es ist besser, du guckst dir das nicht an. Ich bitte dich, tu es nicht!«
    Sie fand den Schalter für die Leuchtstoffröhren. Schweigend ging sie an der Galerie von Plastiken entlang, betrachtete die Reihe der überdimensionierten polierten Penisse, die groben Frauentorsos – meist nur Bauch und Oberschenkel mit deutlich herausgearbeiteten Geschlechtsteilen. Dann kam sie zu den großen formlosen Holzteilen, die sich aufklappen ließen. In ihrem Inneren fügten sich männliche und weibliche Geschlechtsteile ineinander. Sie öffnete alle, dann sah sie finster zu Jakob.
    »Da«, sagte sie, »da siehst du, was du unter Liebe verstehst!« Sie wandte sich ab und stieß ihn an der Tür zur Seite. »Und ich sollte ihm seinen Daumen zurückbringen? Ha!«

39
    Keine Kunst, nein. Das war wohl doch keine Kunst. (Nicht mal Liebe zur Kunst. Oder?) Zu sehr brachte der Produzent dieser Plastiken seinen Genitalfetischismus zum Ausdruck. Das Unglück des Tischlers schien sich zu verdoppeln. Die offenstehende Hütte offenbarte seine Perversität, von der die Dorfbewohner wohl keine Ahnung

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