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Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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stieg zur Wohnung des Studenten hinauf. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Deutete nicht alles darauf hin, daß er in das Dorf gekommen war, um den Daumen ihres Mannes zu stehlen? Waren es nicht immer Fremde gewesen, die schuld hatten am Verlust von Gliedmaßen in der Tischlerfamilie? Sie bemühte sich gar nicht erst, leise zu sein. Sie öffnete die Tür und trat in die Küche. Nur einen Augenblick sah sie verwirrt auf den Körper eines ihr unbekannten und fast vollkommen bemalten Mädchens, der schlaff auf dem Boden lag. Der Wasserhahn in der Küchenspüle tropfte, und das Dachfenster war weit geöffnet. Was für ein lächerlicher Versuch, sie von der Reinheit seiner Seele zu überzeugen. Sie durchschaute den Studenten. Er hatte das unbekannte Mädchen getötet und war nun dabei, über das Dach zu fliehen. Jetzt mußte sie handeln. Sie würde zurück in die Wohnung gehen, Thomas Timbers Gewehr aus dem Schrank nehmen, es laden und diesen verdammten Studenten vom Dach schießen. So wie es sich gehörte. Sollte der Wasserhahn doch tropfen.

38
    »Katharina, bitte, bleib stehen!«
    Sie hatte ihn gehört, war ihm weit voraus, wollte nicht warten und verschwand aus dem Lichtkegel der letzten Straßenlaterne am Dorfausgang in der Dunkelheit. Er setzte zu einem Spurt an, auch sie schien schneller zu werden, schließlich holte er sie atemlos ein.
    »Ich habe keine Zeit«, sagte sie, »ich muß den Daumen finden. Ich denke, ich weiß genau, wo er ist.«
    »Sicher. Den Daumen.« Jakob schöpfte Luft und lachte. Sie funkelte ihn böse an, so daß er erschrak. »Wo willst du hin?« fragte er hilflos.
    Sie hielt inne, sah ihn an und schien darüber nachzudenken, was ihre Worte bei ihm bewirkt hatten, und verzog kurz ihren Mund zu einem Grinsen.
    Jakob überlegte, was so anders an ihr war. Es lag nicht nur an ihrem überraschenden Aufzug. Sie sah gut aus in dem Kleid. Es war mehr: Ihre gesamte Haltung war anders. Obwohl sie ein paar Zentimeter kleiner war als er, schien sie gewachsen zu sein. Ihr Blick traf ihn von oben. Jakob überlegte, ob allein das Kleid dafür gesorgt hatte. (Ein Gedanke nahm Gestalt an, den er sich nicht eingestehen mochte: Wie entstand Liebe. Fragezeichen.)
    »Was willst du?« fragte sie.
    »Dir bei der Daumensuche helfen.«
    Sie lachten beide. Dann erklärte sie, daß ihr Pflegevater sich den Daumen abgeschnitten habe, und sie ahne, wo er zu finden sei.
    Jetzt verstand er ihre Eile, obwohl sie kein besonderes Mitleid zeigte. »Könnten ihn die Ärzte wieder annähen?«
    »Ich denke schon.« Sie erzählte, Thomas Timber sei verletzt nach Hause gekommen. Er sei jetzt beim Arzt, werde aber wohl ins Krankenhaus nach Weinstein gebracht. Katharina habe gar nicht abgewartet, sondern sich gesagt, es sei das beste, den Daumen zu suchen.
    Jakob bot sich an, das Auto zu holen, doch sie behauptete, die Hütte des Pflegevaters am Lichter Moor könne man sowieso nur zu Fuß erreichen.
    Sie gingen ziemlich schnell, und Jakob kämpfte mit sich, ob es wohl ein guter Zeitpunkt sei, sich zu offenbaren. Sicher war ihr jetzt der Daumen des Pflegevaters wichtiger als seine, Jakobs, Liebe, trotzdem wollte er wenigstens einen Versuch wagen. Er erzählte ihr von seinen Hamburger Erlebnissen mit dem Förster und spürte an ihren Fragen, daß sie sich durchaus von dem fehlenden Daumen ablenken ließ. (Um auf den uneingestandenen Gedanken zurückzukommen: Wenn Triebe auf Widerstand stoßen, wird Liebe daraus. Fragezeichen.)
    »Claudia hat immer Angst um ihren Vater, seit Jahren versucht sie zu verhindern, daß er in die Großstädte zu den Hundeausstellungen fährt. Sein Hobby. Aber Claudia befürchtet immer, es geschieht ein Unglück, wenn er das Dorf verläßt«, kommentierte sie.
    »Sie hat ja auch ihre Mutter auf schreckliche Weise verloren.«
    »Sie glaubt, überall herrsche Mord und Totschlag, nur hier wäre es sicher.«
    »Und ist Herzensach kein sicherer Ort?« fragte er und versuchte, ihr Gesicht in der Dunkelheit zu sehen.
    »Hier wird man auch umgebracht – ganz langsam. Im Laufe von siebzig, achtzig Jahren.« Sie zog verächtlich die Mundwinkel herab.
    »Ich dachte mir schon, daß man hier gefoltert wird, und wollte, als ich nach Hamburg fuhr, eigentlich nicht zurückkehren.«
    Sie überquerten die Brücke über die Herzensach und wechselten die Straßenseite. Katharina fragte nicht, warum er denn zurückgekommen sei.
    »Du wirst es mir nicht glauben, aber ich bin deinetwegen zurückgekommen.«
    Katharina

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