Herzensach - Roman
tatsächlich wie tot aus.
Sie fuhren langsam durch das Dorf. Der Gasthof war noch hell erleuchtet. Vor dem Eingang stand eine Gruppe von Männern. Wahrscheinlich war Samstag der Tag, an dem man sich in der Wirtschaft traf. Der Fahrer stieg auf die Bremse und hupte. Aus der Hofeinfahrt des Gasthofs schob sich langsam ein unbeleuchteter Lastwagen. Jakob runzelte überrascht die Stirn. Was war hier los?
»Selbstverständlich fährt man in einem Ort, den es nicht gibt, ohne Licht«, sagte der Fahrer. »Das ist Herzensach!« Er grinste Jakob an.
Sie fuhren vorbei, erreichten die Einfahrt zum Gutshof. Jakob hatte das Gefühl, als würde sich der Fahrer auskennen und hätte ihn als Führer gar nicht nötig. Er wies auf das erleuchtete Gebäude am Ende der Allee und wollte aussteigen. »Das Gut.«
Dieter Vietel hielt ihn zurück. »Wissen Sie, daß mein Bruder auch schwul ist?«
»Nein, so gut ...«
»Der Junge da hinten ist ein Geschenk für ihn.«
»Aha.« Jakob öffnete die Tür.
»Was meinen Sie, wird er meinem Bruder gefallen?«
Jakob drehte sich abermals um. »Sicher ...«
Etwas stimmte mit dem Mann nicht, seine Glieder waren seltsam verrenkt. Der Fahrer lachte. »Er ist wirklich tot. Ein wunderbares Geschenk, nicht wahr? Sie könnten mir helfen, ihn hineinzutragen. Bleiben Sie doch!«
Jakob war ausgestiegen und schloß langsam die Autotür. Er beugte sich herab, um ein weiteres Mal hineinzusehen. Vielleicht war alles ein Traum.
Der Fahrer lachte breit und rief: »Sie müssen die Tür fester schließen. Sie ist nicht zu.«
Die Leiche auf dem Rücksitz blieb eine Leiche. Er öffnete die Tür noch einmal und schlug sie zu. Der Wagen rollte an, bog in die Allee ein. Der Kopf der Leiche war über die Rückenlehne nach hinten geklappt.
Jakob blieb fassungslos stehen. Dieser Tag war voller Überraschungen gewesen, und seine Nerven waren überreizt, kein Wunder, daß er einen guten Schauspieler am Ende für eine echte Leiche hielt. Es wurde Zeit, daß er in seine Wohnung kam und ein wenig schlief. (Und Katharina?)
»Ich bin müde.«
(Und Katharina?)
»Sie ist morgen auch noch da.« Er gähnte.
»Wie lange habe ich eigentlich nichts mehr gegessen?«
Er betrat die Straße, um zur Tischlerei hinüberzugehen, und blieb in der Mitte verwundert stehen.
40
Es gab keinen erkennbaren Grund für die sich immer mehr füllende Gaststube, keine besonderen Vorkommnisse wie einen Brand oder ein anderes Unglück – sah man einmal vom Unfall des Bürgermeisters ab –, nichts machte es notwendig, sich auszutauschen, um auf diese Weise Ursachen und Auswirkungen auf den einzelnen und das Dorf zu ermitteln. Der Verlust eines linken Daumens war zu unbedeutend, in seiner Wirkung zu individuell. Selbst wenn es der Daumen des Bürgermeisters war.
Es war ein gewöhnlicher Samstagabend, an dem die Älteren eher zu Hause blieben und den Fernseher einschalteten und die Jüngeren nach Weinstein fuhren, um ins Kino zu gehen oder in eine Kneipe, die ihnen mehr entsprach als der alte Dorfgasthof. Auch die beiden Weinsteiner Diskotheken verfehlten auf den einen oder andern Teil der Herzensacher Jugendlichen ihre Wirkung nicht. Hier bot sich immer einmal die Gelegenheit, sich an einer Prügelei zu beteiligen.
Im Herzensacher Gasthof herrschte sonntags der größte Betrieb. Es gab eine Gruppe, die sich in etwa immer gleicher Besetzung nach dem Kirchgang hier traf – und am Abend tagte der Heilwasserkreis im Hinterzimmer. Fünfzehn Bauern gehörten ihm an, von denen die meisten regelmäßig teilnahmen. Angeblich diskutierte die Gruppe darüber, ob der alte Brunnen reaktiviert oder ein neuer gebaut werden solle, um die Mineralwasserproduktion wieder ins Leben zu rufen. Doch jeder im Dorf wußte, dies war nur ein Alibi. Wer zu diesem Kreis hinzukommen wollte, mußte gebürtiger Herzensacher sein und sich um eine Einladung bemühen.
Unter der Woche, einschließlich samstags, wurde der Gasthof recht unterschiedlich besucht, aber mehr als sechs Gäste fanden sich abends kaum ein. Dies läßt sich so genau sagen, weil der Wirt im Auftrag des Pastors darüber Buch führte. Eine Abmachung, die es schon seit fast zwanzig Jahren gab und von Rudolf Pedus mit der Begründung eingeführt worden war, ein Frühwarnsystem zu installieren, ob der Teufel in Gestalt übermäßigen Alkoholgenusses ins Dorf Einzug hielt. (Pedus bestreitet heute, dies gesagt zu haben, sondern behauptet, er hätte von sozialen Studien gesprochen.) Und vor dem Teufel hatte
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