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Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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mit einem neuen Psychopharmakon? In den armen Ländern der Erde sollte es angeblich solch großangelegte Versuche geben. Ohne die Menschen darüber zu unterrichten, wurde ihnen mit dem Trinkwasser ein Mittel für Unfruchtbarkeit verabreicht. Warum sollte es solche Experimente nicht auch hier geben? Und ein irrer Dorfarzt wußte und überwachte alles. Ja, genau. Wahrscheinlich handelte es sich bei Herzensach um eine Art offene Anstalt für Geistesgestörte.
    Die Liste!
    Jakob überlegte, ob sich das Original vielleicht in den Praxisräumen befand. Er würde sich noch fünf Minuten geben. Er hatte keine Angst, dem Arzt zu begegnen. Er würde ihn einfach niederschlagen. Er fühlte sich wieder kräftig genug. Er ging zurück, öffnete die Tür zur Anmeldung der Arztpraxis. Er durchquerte den Raum. Eine weitere Tür führte in das Wartezimmer. Von dort betrat er erneut den Flur. Gegenüber befand sich der Behandlungsraum mit dem Schreibtisch des Arztes. Auch hier war niemand. Er ging zum Fenster, sah durch die Gardine auf die leere Straße. Nur vor dem Gasthaus saß jemand in der Sonne auf einem Stuhl. Wahrscheinlich hielt er Wache. Jakob lächelte, sein Selbstbewußtsein war zurückgekehrt. Er fürchtete sich nicht mehr vor den Dorfbewohnern.
    Er wandte sich dem Schreibtisch zu und öffnete die oberste Schublade. Er wühlte zwischen Zetteln, Ärztemustern, Schlüsseln. Er nahm sich eine Schublade nach der anderen vor, doch die Liste fand er nicht. Er hielt inne und dachte nach. Wenn der Arzt darauf wirklich wichtige Beobachtungen notierte, war sie vermutlich unter Verschluß. Er öffnete alle Wandschränke, fand schließlich ein verschlossenes Fach, probierte die Schlüssel aus der Schublade, einer paßte. Es waren handschriftliche Notizen des Arztes darin, für Jakob kaum zu entziffern. Außerdem eine Polaroidkamera, einige Fachbücher mit Lesezeichen und an den Rand geschriebenen Anmerkungen. Dann fand er eine Mappe mit Fotos, die der Arzt von seinen Patienten gemacht hatte. Er hatte bei verschiedenen Patienten die gleichen Symptome dokumentiert: weiße Hautflecken auf den Schultern. Auf dem unteren Rand der Fotos standen jeweils Namen und Datum. Es waren Fotos aus der vergangenen Woche. Also doch eine Epidemie. Endlich entdeckte er in einem blauen Pappumschlag das Original der Liste. Die Strichlisten waren mit »Begegnungen« und »Augenkontakte« überschrieben. Jakob begriff nicht, was der Arzt damit beweisen wollte. Er erinnerte sich aber, daß Doktor Andree seinem Blick ausgewichen war. Immer. Der Mann war verrückt. Eine zweite Mappe mit Polaroidfotos fiel ihm in die Hände. Es waren Aufnahmen von verwundeten Patienten. Er erkannte einen Bauern, den Pastor mit blutender Stirn, weinende Kinder mit aufgeschlagenen Knien. Und Katharina! Sie war es als kleines Mädchen. Vielleicht im Alter von zehn Jahren, lachend, mit einer Wunde auf dem Handrücken. Sie war schon damals ein schönes Kind, aber noch mit blasser Haut und tiefliegenden Augen. Ihr Anblick stach ihm in die Brust. Er würde sie jetzt sofort aufsuchen und mit ihr das Dorf verlassen, und wenn er sie dazu zwingen mußte. Die Tür des Behandlungsraumes schwang auf. Die Alte stürmte mit einem Eimer und Putzmitteln herein.
    »Sie!« Vor Schreck fiel ihr der Eimer aus der Hand. »Ich schreie!«
    »Natürlich.« Er schob alle Unterlagen in das Fach zurück und verschloß den Schrank.
    »Ich schreie!« Sie ließ ihn vorbei.
    »Ich gehe dann.« Er sah sich um.
    »Ich schreie wirklich!«
    »Sicher.«
    Sie gab auf, bückte sich, um den Eimer aufzuheben. Die Bluse zog sich aus ihrem Rock. Nackte Haut quoll heraus, zeigte die Spuren einer alten vernähten Operationsnarbe.

49
    Eine neue Schreckensvision: Er wurde innerlich von Maden zerfressen. Vielleicht kam sein Tod schneller als der seiner Frau? Unsinn, diese kleinen weißen Maden fielen im Frühjahr von den Bäumen.
    Der Pfarrer ging nicht ins Haus, um seinen Talar abzulegen. Mochten ihn die Maden auffressen, ein paar Dinge waren noch zu erledigen!
    Die ungläubige Meute schwankte noch immer auf dem Platz vor der Kirche. Rudolf Pedus hatte wichtigere Dinge zu tun, als sich um ein paar Hysteriker zu kümmern, die ohne die Zeremonie ihres Aberglaubens den Kirchenvorplatz nicht verlassen wollten. Trivial war ein Hund, und Hunde taten eben manchmal, was sie wollten. Und wer weiß, ob es dieses hellsichtige Tier (mit mehr Verstand als mancher seiner Verehrer) nicht vorgezogen hatte, Herzensach an Tagen wie diesen zu

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