Herzensach - Roman
packte ihn, und er hielt sich mit den Händen am Tisch fest. Seine Kleider lagen neben dem Stuhl in der Nähe der Tür auf dem Boden. Schwankend und mit ausgebreiteten Armen ging er auf die Tür zu. Sie war aus Metall, hatte keine Klinke, nur einen Knauf und ein Sicherheitsschloß. Die bekam er nicht auf. Gab es ein Fenster? Wieso hatte er die Kirchenglocken gehört? Plötzlich spürte er seinen Magen nach oben drängen, leichte Übelkeit überkam ihn, und für einen kurzen Moment gehorchten ihm seine Beine nicht.
Er fand sich auf dem Boden liegend wieder. Er kroch zu dem Stuhl an der Tür und zog sich im Sitzen an. Er hatte Schwierigkeiten, in die Hosenbeine zu kommen, und riß dabei den aufgeschlitzten Stoff noch etwas weiter auf. Er mußte zu Kräften kommen, sonst würde es ihm nicht gelingen, aus dem Labor zu entkommen. Er entdeckte einen Mikrowellenherd, nahm ihn als Zeichen, daß es im Raum etwas Eßbares geben mußte. Er stand vorsichtig auf und durchsuchte alle Schränke und Schubladen, doch nur die Tiefkühltruhen enthielten Nahrung, Schweinefleisch, aufgeschnitten und vernäht. Sein Hunger hatte ihn so sehr in der Gewalt, daß er ein kleines mageres Stück auswählte. Nur einen kurzen Augenblick überlegte er, ob er die Naht vorher aufschneiden sollte, dann legte er das Stück, so wie es war, in die Mikrowelle und schaltete sie ein. Der Speichel lief ihm im Mund zusammen, und fast überkam ihn wieder eine Ohnmacht. Er legte sich für ein paar Sekunden flach auf den gekachelten Boden. Danach machte er sich auf die Suche nach einer verborgenen Fensteröffnung. Er sah sogar hinter die Schränke, um zugestellte Öffnungen zu finden. Es gab kein Fenster, nur einen Lüftungsschacht. Hinter dessen Gitter waren ein Ventilator und ein Filter zu sehen. Selbst wenn es ihm gelang, alles zu entfernen, war der Mauerdurchbruch möglicherweise zu eng, um hindurchzukriechen. Vielleicht aber würde man seine Rufe draußen hören. Er betrachtete die Befestigung des Gitters: Schrauben. Ein Versuch war es wert. Er suchte Werkzeug und entdeckte in einer Schublade eine mehrseitige Namenliste. Es waren die Dorfbewohner. Hinter jedem Namen zwei Spalten für eine Strichliste. Es war eine Kopie. Der obere Rand mit der Bezeichnung der Spalten fehlte. Jakob konnte sich nicht vorstellen, was der Arzt auf einer solchen Liste registrierte, außer der Häufigkeit der Konsultationen. Oder war es eine wiederkehrende Krankheit? Er spürte, wie er die Konzentration verlor und zu träumen begann. (Eine endlose Reihe von Krankenwagen mit blitzendem Blaulicht auf der Landstraße nach Weinstein.)
Er schüttelte sich zurück in das Kellerlabor, öffnete einen der Metallschränke und fand Operationsbesteck, Scheren, Zangen, Haken in vielen Formen und Skalpelle und zuletzt ein abgebrochenes Messer, oder war es ein Knochenmeißel, vielleicht auch Teil eines Gerätes, um die Rippen für einen Eingriff zu spreizen. Seine flache Spitze paßte in die Schlitze der Schrauben und war stabil genug, um sie zu drehen. Wieder überkam ihn eine Schwäche. Er mußte sich auf den Boden setzen. Was hatte dieser Arzt mit ihm gemacht? Er erinnerte sich an die Spritze. Ein Mittel, das seinen Willen vollkommen verändert haben mußte. Ein wenig von dieser Sehnsucht, sich in die Hände des Arztes zu begeben, war noch da. Der Mann war ein Wissenschaftler, der hier in diesem kleinen abgeschiedenen Dorf angeblich eine revolutionäre Technik entwickelt hatte. Ein bewundernswerter Arzt. Aber vielleicht stimmte das gar nicht? Vielleicht hatte Doktor Bernhard Andree ihn belogen? Vielleicht belog der Arzt sich selbst? Der Hunger übermannte ihn mit dem Klingelzeichen des Mikrowellenherdes. Er schleppte sich zu dem kleinen Gerät und öffnete die Klappe. Es duftete gut. Hastig trennte er mit einem Skalpell die Haut und die Fettschicht mit der vernähten Wunde ab, führte das heiße Fleisch gierig an die Lippen und riß es mit den Zähnen auseinander, verbrannte sich fast den Mund dabei. Es schmeckte fad, aber er würgte es in großen Stücken hinunter, um seinen Magen zu betäuben. Nachdem er alles verschlungen hatte, wurde ihm übel. Er beugte sich über das Becken neben dem Labortisch und erbrach sich. Er ekelte sich vor sich selbst, weil er das Fleisch gegessen hatte. Schließlich konnte es schon vor dem Einfrieren zu alt gewesen sein. Wer wußte denn, wie lange der Arzt es schon aufbewahrte, immer wieder auftaute, aufschnitt, um neue Wunden herzustellen, zu vernähen, und
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