Herzensach - Roman
hörte die Kirchenglocken. Jetzt kamen ihr die Gedanken aus der Nacht (Ranken, Rosetten, Mäander) absurd und fremd vor. Sie war mitten in der Nacht erwacht und nahe daran gewesen, das Gutshaus zu verlassen. So sehr war sie von Manuela Kotschiks wirrem Gerede verunsichert worden, daß ihr die Sinne einen Streich gespielt hatten. Als sie barfuß und nur mit dem steifen Leinenhemd bekleidet auf der Suche nach einer Toilette durch das Haus geschlichen war, hatte sie die Stimme gehört. Dorothee Wischberg schien noch immer irgendwo im Haus zu sein. War ihre Geschichte von der allnächtlichen und rein sportlich motivierten Klettertour eine Lüge? Doch Katharina hatte nicht herausfinden können, woher ihre Stimme kam.
Sie erinnerte sich sehr klar an die Worte von Dorothee Wischberg und an Jans amüsierte Antworten gestern abend in der Bibliothek. Man hatte ihr etwas vorgespielt. Ein Komödie, bei der sich alle auf ihre Kosten amüsierten. Und Jan hatte mitgespielt. Warum tat er das? Es war gemein. Aber sie war selbst schuld. Sie hatte es mit sich geschehen lassen. Beeindruckt von den dicken Mauern, dem Marmor, den Ranken, Rosetten und Mäandern.
Sie wusch sich, mußte ihr Kleid (auch so eine Reaktion auf das Gutshaus) wieder anziehen, obwohl sie jetzt am liebsten Hosen getragen hätte. Sie ließ die Tür des Gästezimmers bewußt laut ins Schloß fallen und stampfte den Flur entlang. Sie wollte sich nicht dem Haus anpassen. Glaubte Jan, ihr nicht alles mitteilen zu können, was im Gutshaus vor sich ging? Wollte er sie schonen? Oder war sie in seinen Augen ein dummes Bauernmädchen mit begrenztem Verstand, dem man aus diesem Grund nicht alles erzählte?
Andererseits – er hatte ihr schonungslos Geheimnisse seines eigenen Lebens offenbart. Intimitäten. Das paßte nicht zusammen. Da war also etwas, von dem sie noch nichts wußte. Irgend etwas ging in diesem Haus (dicke Mauern, Marmor, Ranken, Rosetten, Mäander, Intrigen, Perversionen) vor, was er ihr, vielleicht nicht einmal mit böser Absicht, verschwiegen hatte. Jan hatte ihre Unwissenheit zu seinem eigenen Vergnügen benutzt. Gut, das kam vor. Aber hinterher hätte er sie aufklären müssen. Sie hatte das verdammte Recht, alles zu erfahren, was in diesem Haus vor sich ging. Und zwar ohne Ranken, Rosetten und Mäander.
Sie verabscheute Situationen, deren Verlauf und Ausgang sie nicht kannte. Die Kontrolle über einen Vorgang zu verlieren war das gleiche, wie sie über sich selbst zu verlieren. Alles mußte aufgeklärt werden, sofort. Eine andere Art zu leben, gab es für sie nicht. Jan war zur Rede zu stellen. Wenn es keine befriedigenden Antworten gab, würde sie gehen. Zwar war der Vertrag unterschrieben, doch trat er erst in ein paar Tagen in Kraft. Und wenn sie es nicht wollte, geschah gar nichts. Notfalls konnte sie mit Hilfe von Jakob Finn sofort aus dem Ort verschwinden. Das war kein so schlechter Gedanke. Je öfter sie an den Studenten dachte, um so mehr gefiel er ihr. Sie lachte laut über sein Liebesgeständnis und hielt sich, als wäre sie bei etwas Ungehörigem ertappt worden, die Hand vor den Mund. Die Erinnerung an ihn verschaffte ihr zumindest wieder gute Laune. Sie ging durch das Haus, die große Treppe hinunter in die Halle. Niemand schien anwesend zu sein. Sie sah in alle offenstehenden Zimmer und entdeckte in dem üppig bepflanzten Wintergarten ein reichhaltiges Frühstücksgedeck. Auf alten Glastischen mit bronzierten gußeisernen Beinen, überragt von Palmenwedeln (was für ein Bild!), stapelten sich frischgebackene Brötchen (was für ein Duft!), englische Marmeladen, ein kleines Büfett mit Champagner, Lachs, Kaviar, großen Schalen voller Obst, darunter auch einige ihr unbekannte Früchte (was für Farben!). Der Luxus im Gutshaus überraschte sie immer wieder.
»Kaffee?«
Sie erschrak, erst jetzt bemerkte sie Werner Kotschik. Er löste sich in seinem dunklen Anzug aus dem Schattenspiel der Palmen und großblättrigen Pflanzen hinter dem Tisch.
Sie nickte. Er goß ihr eine Tasse ein. Sie bemerkte nicht nur seine eleganten Bewegungen, sondern auch sein attraktives Äußeres. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, daß dieser große, kräftige Mann mit der kleinen, in sich zusammengesunkenen Haushälterin verheiratet war. Und plötzlich wußte sie, was man ihr gestern abend verschwiegen hatte: Dorothee Wischberg war die heimliche Geliebte von Werner Kotschik. Die beiden paßten gut zueinander. Und sie paßten genau in diesen Raum. Wie ein Paar
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