Herzensach - Roman
aus den zwanziger Jahren. Damit klärte sich alles auf, und selbstverständlich war Jan zu diskret, um darüber zu sprechen.
Sie lächelte Werner Kotschik an. Er hatte sicher kein einfaches Leben. So wie er da stand, war er wohl der eigentliche Chef des Alltags in diesem Haus. Aber natürlich kam eine Trennung von seiner geistig labilen Frau, die Gespenster sah und Stimmen hörte, nicht in Frage.
Obwohl sie sich bisher nie dafür interessiert hatte, konnte sie sich die gradlinige Welt der Angestellten im Gutshaus gut vorstellen.
Er kam mit der Tasse hinter dem Büfett hervor und führte sie zu einer kleinen Sitzecke mit Rattanmöbeln.
»Es tut mir leid«, sagte er mit einer Verbeugung, »aber ich kann Ihnen im Moment keine Gesellschaft verschaffen. Der junge Herr ist ausgeritten, und ich kann auch nicht den Verwalter bitten. Er ist ebenfalls nicht im Haus.«
»Ich weiß, ich bin ein wenig spät aufgewacht.« Ihre Stimme war dünn, aber sie wagte nicht, sich zu räuspern.
»Was darf ich Ihnen servieren?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich bediene mich selbst. Danke.«
»Bitte.« Er ging, und sie sah ihm nach. Seine erstaunliche Erscheinung, der Duft des Kaffees und der Brötchen, die Sonne, die dem Wintergarten die Stimmung eines Südseestrandes gab, verscheuchten endgültig alle dunklen Zweifel der Nacht. Sie stand auf, öffnete eines der Fenster und sah hinüber zum Waldhang an der Herzensach. Für einen Moment war ihr, als hätte sie Trivial zwischen den Bäumen gesehen. Sie drehte sich um und betrachtete die Vielfalt der Pflanzen in den großen, wertvollen Porzellantöpfen. Viele von ihnen reichten fast bis an die Sonnensegel am gläsernen Dach. Sie ahnte ein Leben, das Lichtjahre von der engen Wohnung des Tischlers, seinen schleimigen Worten, seiner sich duckenden Frau und der staubigen Werkstatt entfernt war. Ein Leben wie im Märchen, in dem sie über alles hinwegflog und auf Herzensach hinunterblicken konnte, als läge dort eine Ansichtskarte auf dem Boden, die sie bei Gelegenheit verschicken würde: Viele Grüße, bin für ein paar Tage in meinem alten Dorf. Nette Leute, aber auf Dauer unerträglich. Eure Katharina van Grunten. Alles wird gut. Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.
Sie stellte sich vom Büfett einen Teller zusammen und ging (schwebte) zurück zur Sitzecke. Erst jetzt entdeckte sie ein kleines Briefchen (parfümiert?), das unter der Vase mit den Narzissen festgeklemmt war. Es war mit ihrem Namen beschriftet (verschnörkelt?). Warum hatte Werner Kotschik sie nicht darauf aufmerksam gemacht? Sie war abgelenkt gewesen, und er hatte es als selbstverständlich betrachtet, daß sie es bemerkte. Sie öffnete es rasch (mit Herzklopfen?):
»Liebe Katharina, ich hoffe, Du konntest nach diesen seltsamen Ereignissen am Abend gut schlafen. Was für eine verrückte Welt.
Verzeih mir, aber eine alte Gewohnheit treibt mich früh hinaus in den Pferdestall und in den Wald.
Bitte, warte auf mich, denn eines hat mich dieser Abend gelehrt: Auf Deine Gesellschaft möchte ich nicht verzichten – Jan«
Sie lächelte (versonnen?) und steckte den Brief (zwischen ihre Brüste?) zurück in den Umschlag. Alles war gut. In diesem Augenblick hörte sie den Schuß und seinen Nachhall. Es kam aus dem Wald. Sie blickte zum Fenster, stand auf und sah vor ihrem inneren Auge den Förster das Herz des Rehes herausschneiden, um es der Königin zu bringen.
Und als hätte der Knall eine posthypnotische Reaktion ausgelöst, ging sie traumwandlerisch durch die Halle und stieg die Treppen hinauf. Sie erinnerte sich nicht, jemals auf dem Flachdach der Seitenflügel gewesen zu sein, doch sicher gab es einen Zugang. Jetzt mußte sie hinauf. Im zweiten Stock gab es eine Tür, die ins Freie zu führen schien. Sie war abgeschlossen, doch der Schlüssel hing daneben in einem kleinen Kasten. Sie öffnete die Tür. Es war ein Dachgarten, allerdings war er wohl lange nicht benutzt worden. Ein paar verrottete eiserne Gartenmöbel standen herum. Moos bedeckte die Steine. Birken hatten sich ausgesät, wuchsen klein und verkrüppelt in den Ritzen. Um einen Fahnenmast, von dem die Farbe abblätterte und eine Schnur in Fransen herabhing, gruppierten sich zersprungene Töpfe mit vertrockneten Pflanzen. Sie ging zur steinernen Brüstung und sah hinüber zum Wald. Weit entfernt stieg ein Mann einen der Wege zum Heidberg hinauf, verschwand eine Zeitlang hinter Bäumen, tauchte wieder auf. Am Gang erkannte sie den Förster. Dann
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