Herzensach - Roman
Leichen.
»Ist gut. Es ist wegen meines Bruders. Verstehen Sie, ich muß mich beeilen. Aber kommen Sie auch wirklich nach?«
»Ja.« Jakob hielt die Luft an, bis Jürgen Vietel die Böschung hinaufgestiegen und nicht mehr zu sehen war, dann fiel er einfach um, stieß die Luft in einem langen, dumpfen Schmerzenslaut aus. Jeden Moment mußte sein Herz zerreißen – oder vielleicht kam ein wildes Tier und fraß ihn. Vielleicht traf ihn auch ein verirrtes Geschoß von einer weit entfernt abgefeuerten Kanone, oder eine Flutwelle spülte ihn ins Meer, wo schon ein gefräßiges Seeungeheuer wartete. Manchmal bebte auch einfach die Erde, ein tiefer Spalt tat sich auf und verschluckte Menschen wie ihn.
Er wartete und wartete, aber es geschah nichts von alldem, was er sich gewünscht hatte. Nicht einmal die Dorfbewohner kamen, um ihn aufzuhängen. Nicht ein einziger. Nicht einmal, um ihn zu bespucken.
Er wartete noch ein bißchen. Er wollte nicht ungeduldig erscheinen. Aber es geschah immer noch nichts. Er wartete noch ein bißchen. Es war wie immer, die wirklich wichtigen Dinge, die, die das Leben veränderten, geschahen immer zum falschen Zeitpunkt – dann, wenn man sie nicht gebrauchen konnte. Er wußte das längst, hatte es längst erfahren. Sein Recht auf Glück war vor langer Zeit in einem südamerikanischen Regenwald vom Himmel gefallen – und nicht wieder auf die Beine gekommen. In einer Großstadt wie Hamburg fiel das nicht auf. Da gab es viele Menschen mit komplizierteren Krücken. Und dort fanden sich auf alle Gebrechen spezialisierte Frauen. Was erwartete er von den Frauen hier auf dem Land? Jede normale Frau sah ihm an, was mit ihm los war, und wandte sich intakten Männern zu. Sie folgten einem Naturgesetz. Katharina war eben auch noch mit natürlichen Instinkten ausgerüstet. Sie wählte das gesunde Erbgut. Es wäre also sowieso nichts geworden mit ihnen. Daß er mitgeholfen hatte, sie in die Arme des Gutsherrn zu treiben, war vollkommen egal.
Wütend krümmte er sich. Warum dachten die denn noch immer, er sei ein Weinstein? Wie blöd waren die denn? Waren sie deshalb hinter ihm her? Sogar der Pfarrer, der Arzt ... Und vor lauter Angst nahm der Gutsherr das nächstbeste Mädchen aus dem Dorf ... nein, sie war die beste Wahl, die er treffen konnte, trotzdem paßte sie nicht zu ihm.
Er wußte nicht, wie der Verdacht hatte entstehen können, er sei ein Nachfahre der Grafen Weinstein. Aber Katharina dachte es wohl auch, war wahrscheinlich deshalb immer so abweisend zu ihm gewesen. Wenn er jetzt ins Gutshaus ging und noch einmal alles aufklärte, vielleicht würde sie ihre Verbindung erleichtert lösen. Sie wußte doch, daß er sie liebte.
Hätte sie ihn doch bloß einmal auf seine vermuteten Vorfahren angesprochen, alles wäre gut geworden!
Er stand auf. Er würde jetzt ins Gutshaus gehen und diesen verdammten Gutsherrn, wenn er nicht einsichtig war, zu einem Duell auf Leben und Tod herausfordern.
Er ging nicht. Er würde doch bloß eine lächerliche Figur abgeben. Er konnte weder fechten noch schießen, und boxen konnte er schon gar nicht. Außerdem konnte er Katharina auch damit nicht beeindrucken. Sie wollte ihn nicht. Er hatte niemals auch nur die Spur einer Chance besessen. Und das war gut so. Dieses Mädchen war unmöglich.
Er konnte froh sein.
Wie lief sie denn herum?
Sehr froh.
Eine vom Land, meine Güte!
Verdammt froh.
Verdammt.
Mist!
51
Sie hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. Es war kalt unter dem prall gestopften Federbett. Aber Katharina hätte jetzt auch vor einem Kaminfeuer oder in einer heißen Badewanne gefroren. Sie wagte nicht, unter der Decke hervorzukommen. Sie wünschte sich weit weg, wollte in dem beeindruckenden Zimmer des Gutshauses genausowenig erwachen wie sonst in ihrer Kammer im Haus des Tischlers. Sie fragte sich, wie der Student in Hamburg wohnte, und stellte sich eine kleine (vergitterte) Kammer vor, mit einer Holzpritsche (mit Strohsack) und einem abgeschabten Tisch, auf dem sich alte, in Leder gebundene und vergilbte Bücher türmten. Sie lachte grimmig. Dieses verdammte Gutshaus verstellte ihr den Blick auf die Realität. Die dicken Mauern, der Marmor, die Ranken, Rosetten, Mäander machten aus ihr eine Art Aschenputtel. Sie sprach anders und dachte anders als sonst (in Ranken, Rosetten, Mäandern). Kein Wunder, wenn der Student in ihrer Phantasie plötzlich in einer Klosterzelle hauste.
Sie streckte den Kopf aus dem Bett. Die Sonne schien und sie
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