Herzensach - Roman
sich bis zur Mittagszeit verkroch. Die Dorfbewohner würden doch hoffentlich heute einen Mittagsschlaf halten.
Er krabbelte zurück und huschte zum rückwärtigen, mit dichtem Buschwerk bewachsenen Teil des Gartens. Dahinter stieg er über den Zaun, der das Grundstück des Arztes von einer Weide trennte. Vielleicht sollte er sogar die Dunkelheit abwarten, um Katharina zu suchen? Vielleicht wäre es vernünftig, in der Zwischenzeit zum Gutsherrn zu gehen? (Als wenn die Vernunft bei seinen Überlegungen eine Rolle spielte.) Den Förster hielt er allerdings für zuverlässiger. Doch war der schon zurück? Wenn er über die Herzensach bis in den Wald ging, konnte er in der Deckung der Bäume bis an die Rückseite des Forsthauses gelangen. Es war ein langer Weg, aber der beste Plan. Die einzige Gefahr bestand darin, während der Überquerung der zur Flußsenke führenden Weide gesehen zu werden. Bis er aus dem Sichtfeld des Dorfes gelangte, schien ihm die Geschwindigkeit eines Sonntagsspaziergängers die beste Tarnung zu sein. Er ging langsam schräg über die Weide, die Hände tief in den Taschen, die vorn aus den aufgeschlitzten Hosenbeinen herausschauten. Er versuchte einen breitbeinigen Gang, weil er glaubte, daß ein Bauer so gehen würde.
Am Ende der Weide kroch er unter dem Stacheldrahtzaun hindurch und kam auf den Feldweg zur Herzensach. Nur noch wenige Meter, und der Weg senkte sich ab. Geschafft.
»Ich hatte ehrlich nicht erwartet, Sie lebend zu sehen.«
Jakob suchte erschrocken die Herkunft der Stimme. Der Gutsverwalter trat grinsend hinter einem Busch hervor. »Gestern schien sich aller Unmut der Herzensacher über Ihrem Kopf zusammenzuziehen. Man machte Sie so ziemlich für alles verantwortlich: für schlechtes Wetter, zu früh kalbende Kühe einfach für Mißgeschicke jeder Art und wahrscheinlich nicht zuletzt auch für das Unglück, in diesem Dorf wohnen zu müssen.« Jürgen Vietel lachte. »Sie sehen etwas lädiert aus. Hat man Sie doch erwischt?« Er zeigte auf Jakobs Hose. Der Student erholte sich von seiner Überraschung. Der Verwalter schien ihm nichts Böses zu wollen, spazierte neben ihm her und bestätigte: »Von mir haben Sie nichts zu befürchten. Ich versuchte gestern noch diese Wahnsinnigen von ihrem Plan abzubringen, Sie zu jagen. Wo hatten Sie sich versteckt?«
»Ach.« Jakob winkte ab. »Wollen die mich immer noch haben?«
»Wer weiß.« Der Verwalter zuckte mit den Schultern. »Der harte Kern sitzt wohl ohne Unterlaß im Gasthof und betrinkt sich. Der Alkohol macht sie unberechenbar.«
»Was ist bloß los mit den Menschen hier?«
»Was wollen Sie, es ist ein abgeschiedenes kleines Nest am Rande der Welt, da mag man Fremde nicht. Sie führen einem vor Augen, wie weltfremd man selber ist, wie rückständig, wie begrenzt im Denken. Sie sind ein Angriff auf die Lebensart der Menschen hier. Jeder Fremde, der sich hier niederläßt, bringt das gesamte Idyll in Gefahr. Und Sie besonders. Aber wahrscheinlich ahnen Sie nicht einmal etwas davon. Diese kleine Welt kann einstürzen durch Menschen wie Sie.« Er lachte. »Es ist wahr!«
»Ich habe eher den Eindruck, verzeihen Sie, es sind alle ein bißchen verrückt hier.«
»Ich weiß schon, was Sie meinen. Die Geschichte des Ortes. Wir stammen alle von Piraten ab. Wir sind etwas wilder, wir bringen Leute um. Das meinen Sie, was? Immer wenn etwas Ungewöhnliches geschieht, werden die Piraten wieder hervorgeholt.«
»Ist es nicht wahr?«
»Ich komme auch aus einer solchen Familie. Aber ich bin wohl aus der Art geschlagen. In mehrfacher Hinsicht.«
»Ihr Bruder aber nicht.«
»Was?«
»Ihr Bruder.«
Jürgen Vietel war mit offenem Mund stehengeblieben. »Sie kennen meinen Bruder?«
»Ich nehme es an. Er sagte, er sei Ihr Bruder.«
»Sie sind ihm begegnet?«
»Was ist so seltsam daran?«
»Ich kann es nicht glauben. Sie scheinen wirklich alles durcheinanderzubringen. «
Sie hatten die Herzensach erreicht. Jürgen Vietel setzte sich auf einen großen Stein und lud den Studenten ein, sich neben ihn zu setzen. »Mein Bruder ist spurlos verschwunden, seit Jahren. Wo haben Sie ihn getroffen? Sie kommen aus Hamburg, ist er dort? Wieso hat er sich zu erkennen gegeben?«
Jakob setzte sich, erzählte von der Begegnung am vergangenen Abend. Der Verwalter wollte ihm nicht glauben und verlangte eine ausführliche Beschreibung. Jakob gab sie ihm, hielt es aber für besser, nichts von der Leiche im Fond des Wagens zu erzählen. Jürgen Vietel wurde
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