Herzensach - Roman
Menschen geben?) Er war davon ausgegangen, daß sein Bruder erst am nächsten Tag von einer Reise zurückkam. (Dieses leuchtende Rotblond auf seinem Kopfkissen!) Doch Dieter kam mitten in der Nacht. Jürgen Vietel krümmte sich. (Was war aus diesem hübschen Jungen geworden?)
Dieter hatte die Tat seiner rasenden Eifersucht büßen müssen. Vor Gericht hielt man ihm auch den Tod der Mutter vor. Vergebens hatte Jürgen alle Schuld auf sich nehmen wollen. Doch das Gericht verfuhr nach anderen Kriterien. Seine Strafe war es, straflos auszugehen. Er war schuld und durfte nicht büßen und konnte beim Bruder keine Verzeihung erwirken. Er war schuld. Für ein flüchtiges Abenteuer hatte er Dieters Liebe aufs Spiel gesetzt. (Rotblond! Doch, doch, am ganzen Körper. Und diese unglaublich blasse Haut!) Noch heute war jede Beziehung, die er an manchen Wochenenden in den einschlägigen Lokalen der Stadt einzugehen versuchte, davon überschattet. Immer häufiger blieb ihm mit seinen neunundvierzig Jahren nichts anderes übrig, als für ein bißchen Liebe zu bezahlen. (Kennt ihr so einen kleinen Rotblonden? Nicht? Schade.)
Er war schuld. Wie schwer war es für Menschen seiner Prägung, einen Partner zu finden – und er hatte alles für eine Nacht geheimnisvoller rotblonder Leidenschaften aufs Spiel gesetzt. Er war schuld. Noch heute plagten ihn lange, schlaflose Nächte, mit nichts als den Bildern jener Nacht vor Augen. Wieder und wieder. (Rot...)
Jürgen Vietel stützte sich schwer auf die Fensterbank. Mit wässerigen Augen beobachtete er den Hund, der zurückkam, sich ausführlich an einer der Torsäulen rieb und anschließend niederließ. Er sah den Gutsherrn (im attraktiven Reitdreß) die Freitreppe hinaufspringen. (Ach, wie elastisch!)
Der Verwalter schüttelte den Kopf, um die Erinnerung und die aufkommenden geheimen Wünsche zu verscheuchen. Er stieß sich vom Fenster ab, straffte sich und tastete mit der Hand nach dem korrekten Sitz seiner Krawatte. Er nahm seine Unterlagen vom Schreibtisch und ging festen Schrittes hinaus, den Flur entlang bis in die Halle. Er blieb stehen und sah an sich hinunter. Er liebte den Anblick seiner roten Schuhe auf dem blassen Marmor.
Der junge Gutsherr wußte, was er an seinem Verwalter hatte. Auf Jürgen Vietel konnte er sich in jeder Beziehung verlassen: mit ihm erlebte man keine bösen Überraschungen. Sein Vater hatte ihn eingestellt, obwohl er von dessen Vorleben und Vorlieben wußte. Und Jürgen Vietel dankte es mit unermüdlichem Einsatz, präzisen Abrechnungen und selbständigen Entscheidungen, die der Gutsherr nicht besser hätte treffen können. Jan wußte, wäre Jürgen Vietel nicht, er könnte kaum so viel Zeit in Berlin verbringen. Still und zufrieden nickend hörte er von seinem Schreibtisch aus den Bericht des Verwalters in der Bibliothek. Sie beide wußten, mit der Landwirtschaft konnte im Verhältnis zum Aufwand, vor allem durch das zahlreiche festangestellte Personal, kaum Gewinn gemacht werden. Aber das hatte Tradition: Wer aus einer der alten Familien des Dorfes stammte und keine Arbeit fand, wurde vom Gutshaus beschäftigt. Wenn nötig, bekam er auch eine Unterkunft. Seit des Piraten Zeiten war dies so gewesen und hatte zu einer starken Dorfgemeinschaft geführt. Jan wollte, solange es nicht dringend notwendig war, daran nichts ändern. Schließlich besaßen die Einheimischen kein eigenes Land, sondern nur Pachtverträge. Es hieß, sie hätten deshalb Hendrik van Grunten dieses Fürsorgezugeständnis abgerungen. Außer einem Hinweis in der Familienchronik gab es nichts Schriftliches darüber.
Jan wußte, unter solchen Umständen zu wirtschaften war für seinen Verwalter nicht immer leicht. Und hätte er nicht die Gewinne aus seiner Berliner Firma in das Gut eingebracht, es wäre kaum möglich gewesen, in moderne Maschinen zu investieren.
Der Verwalter hatte die Bestandsaufnahme beendet und kam zu den in absehbarer Zeit anstehenden Entscheidungen. Jan spürte an Jürgen Vietels Gestik und dessen Sprechpausen, daß er etwas Besonderes vorhatte. Und tatsächlich eröffnete er ihm, daß er beabsichtige, ein Drittel der landwirtschaftlichen Fläche nicht mehr zu bearbeiten. Der Gutsherr hob verwundert die Brauen. Der Verwalter wies anhand einer ausführlichen Berechnung nach, daß die staatliche Stillegungsprämie mehr einbrachte und wirtschaftlicher war als die Nutzung der Felder.
Der Gutsherr sprang auf, er trug noch immer seine Reitkleider, lachte, ging zu seinem
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