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Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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worden war, und grinste in sich hinein. An der Ausfahrt zur Dorfstraße blieb er kurz stehen und streckte vorsichtig den Kopf hinaus. Zwar war die Begegnung mit dem Fremden unausweichlich, doch wollte er sie so lange wie möglich hinauszögern. Er fürchtete sich vor dem Augenblick des Erkennens, wenn sich der Gesichtsausdruck erhellt, die Erinnerung die Augenbrauen hochzieht und den Mund leicht öffnet. Es sollte noch ein wenig Zeit vergehen. Erinnerungen verloren ihre Plastizität, sie verschwammen und zogen sich selbst in Zweifel.
    Thomas Timber betrat die leere Straße und spürte, daß etwas unter seiner Sohle klebte. Er stützte sich an der Hauswand ab, hob den Schuh. Es war Hundekot. Er streifte die Sohle an der Kante des Bürgersteigs mehrmals ab. Als er wieder aufblickte, überquerte ein nasser Mann die Straße. Das Haar hing ihm in Strähnen über die Stirn. Wasser tropfte aus seinem ramponierten Anzug. Er lächelte hilflos.
    »Bin in den Bach gefallen«, sagte er entschuldigend und breitete die Arme aus.
    Der Tischler hatte sich nicht mehr rühren, geschweige denn atmen können. »Tag«, preßte er schließlich heraus und löste damit den Bann. Er wandte sich ruckartig ab und ging mit schnellen Schritten zur Tischlerei. Er wagte nicht, sich umzudrehen.
    Jakob Finn zupfte an seinem Anzug. Der Stoff seines Hemdes und seiner Unterwäsche klebte auf der Haut. Er hatte versucht, allen auszuweichen. Sein Zustand war ihm peinlich. Doch um in das Fremdenzimmer zu gelangen, hatte er an dem Mann vorbei müssen. Er wußte nicht, wer das war, der sich da die Schuhe am Bordstein schabte – nur, daß er den Mann schon einmal gesehen hatte. Aber es fiel ihm nicht ein, wo, wann und in welchem Zusammenhang.

15
    Jürgen Vietel hob den Kopf und lauschte, ob sich Schritte näherten. Er legte das Buch über Sexualität und Grausamkeit in die unterste Schublade seines Schreibtischs zurück. Vor einigen Tagen hatte er es aus der Bibliothek des Gutshauses geholt. Jan würde den Band kaum vermissen.
    Auf der Schreibtischplatte lag alles bereit, was er für ein Gespräch mit dem Gutsherrn brauchte: Journale, Listen über Reparaturen und notwendige Investitionen sowie ein Zettel mit Stichworten für seinen Vortrag. Der Verwalter erhob sich, um den korrekten Sitz seiner Kleidung zu überprüfen. Er trug mit Vorliebe englische Anzüge, im Sommer einen khakifarbenen Dreß, bestehend aus kurzen Hosen und einem gegürteten Jackett. Dazu ein blaues Hemd mit gelbschwarz gestreifter Krawatte. Er ordnete die Bleistifte auf dem Schreibtisch, rückte das Telefon ein Stück nach links und den kleinen Silberrahmen mit dem Bild seines Bruders ein Stück nach rechts. Wo mochte sein Bruder Dieter jetzt sein? Vor fast neun Jahren hatte er ihn zum letzten Mal gesehen. Dann vergebens vor dem Gefängnistor auf ihn gewartet. Er war schon zwei Tage früher entlassen worden. Doch bei der hinterlegten Adresse, einer kleinen Pension, war Dieter Vietel nie angekommen. Seit neun Jahren war er verschwunden. Kein Brief, keine Karte, kein Anruf. Jürgen Vietel wußte, sein Bruder stellte ihn auf die Probe. Er liebte ihn noch immer. Eines Tages würde er auftauchen, unerwartet. Wie damals. Gemeinsam hatten sie den kleinen elterlichen Hof bewirtschaftet, bis zu jenem schrecklichen Tag, als Dieter in seiner Wut alles zerstörte. Erst brannte die Scheune, dann die Ställe, schließlich das Haus. Jürgen hatte die Mutter, seit dem Tod ihres Mannes war sie an den Rollstuhl gefesselt, aus dem brennenden Haus herausgebracht, an den Straßenrand geschoben und versucht, die Kühe und Kälber zu retten, den Schweinen einen Fluchtweg zu schaffen. Doch als er endlich Zeit fand, sich um seine Mutter zu kümmern, hatte sie tot in ihrem Rollstuhl gehangen. Das faltige Gesicht ganz heiß von den Flammen.
    Die Mutter hatte gewußt, wie es um ihre beiden Söhne stand, es klaglos hingenommen, nie darüber sprechen wollen und weggeschaut, wenn die beiden einander küßten und zärtlich umarmten.
    Jürgen Vietel trat ans Fenster des kleinen Verwalterbüros und sah hinaus. Ganz vorn am Eingang des Gutes trottete Trivial mit gesenktem Kopf vorbei.
    Wenn es ihm möglich wäre, diesen Abend vor vierzehn Jahren ungeschehen zu machen, er würde jedes Opfer bringen. Er knirschte mit den Zähnen. Was hatte ihn bloß getrieben, in die Stadt zu fahren und dann auch noch diesen hübschen rotblonden Jungen, den er dort kennengelernt hatte, mit nach Hause zu nehmen? (Warum mußte es so hübsche

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