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Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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lag, an Händen und Füßen gefesselt, auf der Fahrbahn. Sie versuchte mit den armseligen, sich krümmenden Bewegungen eines Wurms über den Asphalt zu kriechen, um sich an den Straßenrand zu retten. Jakob hatte keine Chance, ihr auszuweichen, er mußte sie überfahren. Er schloß die Augen, wartete auf die Erschütterung, wenn die Räder über den Körper rollen würden, doch nichts geschah. Plötzlich war er nicht mehr im Auto, sondern stand daneben und sah zu, wie die Leiche des Mädchens von kräftigen Händen an den Straßenrand gezerrt wurde. Man wollte sie heimlich verscharren. Erst jetzt identifizierte er das Mädchen. Es war Katharina! Sie hatte ein blutloses schwarzes Einschußloch auf der Stirn und trug ein rotes Kleid ...
    Vor Schreck hatte er die Augen geöffnet, fuhr hoch und sah das rote Kleid durch die Bäume leuchten. Eine Frau bewegte sich nicht weit von ihm durch den Wald. Er rieb sich die Augen. Es mußte die Frau des Wirtes sein, denn sie hatte schon heute morgen, als er bei ihr die Zeitung kaufte, dieses leuchtend rote und sommerlich weite Kleid getragen. Es hatte sie fröhlicher und jünger erscheinen lassen als an den Tagen zuvor.
    Jakob sank zurück zwischen die Wurzeln der Eiche. Was hatten solche Träume zu bedeuten? (Ziemlich einfach: 1. Fahr vorsichtig! 2. Überfahre keine Förster! 3. Überfahre keine gefesselten Frauen!)
    Er wurde nicht richtig wach, schlief aber auch nicht mehr ein, da er fürchtete, der Traum käme wieder, und zugleich packte ihn die Neugier, was Dorothee Wischberg im Wald suchte, denn ihr Schritt war, wie ihm jetzt nachträglich auffiel, nicht der einer Spaziergängerin gewesen, sondern hatte etwas Eiliges, Heimliches an sich gehabt. Er stützte sich auf die Wurzeln, wartete, bis sein mangelhaft durchblutetes rechtes Bein zu kribbeln anfing. Jetzt verstand er, warum er im Traum nicht hatte bremsen können. Doch warum war es Katharina (war sie es?), die er überfuhr?
    Er streckte sich. Sein erwachendes Bein ließ es jetzt zu, vorsichtig aufzutreten. Dorothee Wischberg war nicht mehr zu sehen. Ein sandiger Holzabfuhrweg trennte ein junges Birkenwäldchen von einer alten Kiefernaufzucht ab. Während die hohen Nadelbäume von typischer Kahlschlagwirtschaft zeugten, waren die Birken sicher nicht planvoll angelegt worden, sondern hatten sich selbst ausgesät. Der van Gruntensche Forst war wohl unterschiedlichsten Bewirtschaftungsideen ausgesetzt gewesen, und heute überließ man ihn weitgehend sich selbst. Plötzlich entdeckte Jakob wieder ein Stück des roten Kleides. In dem jungen Birkenhain gab es eine Lichtung mit hohem weichem Gras, dort hatte sie sich in die Sonne gelegt. Der Student kehrte auf den Weg zurück und suchte eine Stelle, von der aus er ihr Gesicht genau erkennen konnte. Es war wirklich die Frau des Wirtes. Jakob rutschte neben dem Weg in eine Senke und kam sich plötzlich wie ein Voyeur vor (uh, wenn ihn jemand beobachtete, wie er jemanden beobachtete!). Vielleicht war dies Dorothee Wischbergs üblicher Platz zum Sonnenbaden – einsam und versteckt genug war er, um alle Kleider abzulegen. Er kletterte schnell wieder auf den Weg und schlug die Richtung zum Heidberg ein. Doch ein lauter Ausruf ließ ihn halten, sich noch einmal umdrehen und einen Blick zwischen den dünnen Birken hindurch suchen. Dorothee Wischberg war nicht mehr allein. Ein blonder Mann in einer braunen Wildlederjacke hatte sich über sie gebeugt. Sie kam ihm entgegen, küßte ihn, dann sanken beide in das tiefe Gras zurück. Der Student kannte den Mann nicht. Er entfernte sich schnell und leise.
    Natürlich gab es auch in einem so idyllischen Dorf wie Herzensach heimliche Liebschaften, Seitensprünge und verbotene Leidenschaften, Karies und Prostitution. Für einen Städter verbindet sich das Landleben oft mit Gesundheit und mangelnder Gelegenheit, dachte Jakob. Wahrscheinlich war es hier nicht anders als in großen Städten, vielleicht kam alles Negative in der Relation sogar häufiger vor. Für einen Moment stand ihm wieder jenes seltsame Ereignis vor Augen, das er beim Betreten des Dorfes erlebt hatte. Doch inzwischen war er der Meinung, seine Erinnerung bestände aus einer Mischung von Traum und Wirklichkeit. Wie auch immer, er hatte nicht vor, sich in das Leben der Dorfbewohner einzumischen, schon gar nicht wollte er ihre Geheimnisse ausspionieren. Die einzige, über die er gern mehr, nein, alles gewußt hätte, war Katharina. Der Gedanke an das hübsche, aber mißgestimmte

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