Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
Vom Netzwerk:
einsperren.«
    Das Reh stupste Claudia an, sie lachte, gab ihm einen leichten Klaps und zeigte ihre leeren Hände. »Ich habe nichts mehr für dich.«
    Das Tier senkte den Kopf, schnupperte am Gras, beobachtete aber genau, was Claudia tat.
    »Was redet man über mich?« fragte der Student.
    Sie wiegte den Kopf, schließlich sah sie ihm in die Augen. »Ich möchte, daß Sie mir eine ehrliche Antwort geben.« Sie war ein Reh.
    Jakob hob die Augenbrauen.
    »Es heißt, Sie könnten ein Erbe der Weinsteins sein.« Ein schönes Reh.
    »Was?« Jakob starrte sie mit offenem Mund an.
    »Ja, Sie sollen mit der Familie der ehemaligen Grafen verwandt sein. Und aus diesem Grund hier sein.« So scheu.
    »Wer sagt so etwas?« Er hatte keine jungen Möhren bei sich.
    Sie hob die Schultern und stakste zu ihm heran. Jakob fragte sich, was geschehen würde, wenn sie das schützende Forsthaus verließ. Im Haus, das durch hohe Holunderbüsche verborgen war, öffnete sich quietschend ein Fenster. Sie roch nach Wildnis, nach Moos und Beeren. Der Förster rief den Namen seiner Tochter. Sie senkte die Stimme. »Machen Sie sich auf eine Prüfung gefaßt. Mein Vater glaubt, sie könnten ein Weinstein sein.«
    »Und was glauben Sie?« Er hätte sie gern gestreichelt.
    Sie schwieg, führte ihn zum Haus zurück. Vor dem Eingang blieb er stehen und hielt sie fest. »Ich will eine Antwort!«
    Ihre großen dunklen Augen. Aber kein Fell. Kein Fell!
    Sie kam dicht zu ihm heran, sah ihn traurig an, dann schüttelte sie den Kopf, umschlang seinen Hals und küßte ihn leidenschaftlich. Es überraschte ihn. War er das Reh?

17
    Rudolf Pedus stand unbeweglich im Flur des Pfarrhauses und überlegte, welches Werkzeug ihm heute morgen gefehlt hatte. Er hatte sich vorgenommen, es nachmittags aus dem Haus mit in den Brunnen zu nehmen. Es fiel ihm nicht mehr ein. Es herrschte ein Augenblick vollkommener Stille. Selbst von draußen, vom Dorf kam kein Laut. Er lauschte. Er hatte ein leises Rufen gehört. Das Geräusch seines Atems? Ein himmlisches Wesen? Es wiederholte sich und alarmierte ihn.
    »Inge?« Seine Frau schlief für gewöhnlich um diese Zeit. Alles blieb ruhig, nur ein Kratzen kam von der verschlossenen Eingangstür. Er öffnete sie, und Trivial stürzte mit einem Satz ins Haus, stürmte, ohne ihn zu beachten, vorbei und hastete die Treppe hinauf. Im ersten Stock stieß er ein kurzes Jaulen aus.
    Der Pastor folgte so schnell wie möglich und fand seine Frau ohnmächtig auf dem Boden vor der Schlafzimmertür. Der Hund lag neben ihr und leckte ihre Hand. Rudolf Pedus griff ihr unter die Schulter, hob ihren Oberkörper an, und sie öffnete die Augen.
    »Es geht schon wieder«, sagte sie. »Es war nur ...«
    »Du sollst dich doch schonen.«
    »Es waren die Klöße.«
    Er hob die Frau hoch, stieß die Schlafzimmertür mit dem Fuß auf und trug sie auf das Bett.
    »Es ist die Krankheit und waren nicht die Klöße.« Er forschte einen Augenblick irritiert diesem Satz nach. War es ein Zitat?
    Er strich seiner Frau über die Stirn. Kalter Schweiß. Als sie vor zwei Jahren die schreckliche Diagnose erfahren hatten, da gab es für sie keinen Zweifel: Den Möglichkeiten der modernen Medizin wollte sie sich nicht ausliefern. Die Chance einer Heilung war so gering, daß sie es vorzog, in Ruhe zu sterben. Man hatte ihr drei Monate gegeben, dann noch einmal drei. Das erste Jahr war vergangen, und die Ärzte standen wieder vor ihrem Bett. »Noch drei Wochen!« hatte der Arzt aus Weinstein geflüstert. »Drei Monate«, hatte Doktor Andree sie beruhigt. Nun waren es schon zwei Jahre. Zwar wurden die Schmerzmittel stärker, die Dosis höher, doch sie konnte sich noch immer selbständig bewegen und den kleinen Haushalt führen. Die meiste Zeit aber verbrachte sie auf ihrer Lieblingsbank hinter der Kirche, den Blick auf den Heidberg genießend und eine Decke über den Knien. Sie wußte, daß man dies von einer Sterbenden erwartete. Die Krankheit sah man ihr kaum an. Aber Rudolf Pedus fand, sie sei schöner geworden. Sie übte an ihrem Ausdruck, versuchte ihrem Gesicht ein überirdisches Strahlen zu verleihen und zeigte selten den Schmerz, den sie trotz der Arzneien ab und zu fühlte. Ihre Liebe galt allen Fernsehserien und -filmen, in denen Sterbende im Mittelpunkt standen.
    »Ich hole Doktor Andree.«
    Sie hielt ihn fest. »Nein.«
    Wenn es schlimmer werden sollte, stand Bernhard Andree mit Morphiumspritzen bereit. Er hatte Inge Pedus unterstützt, sich keiner

Weitere Kostenlose Bücher