Herzensach - Roman
Findelkind beflügelte ihn. Er stieg kraftvoll den Heidberg hinauf und verlangsamte seine Schritte erst, als er spürte, daß ihm Schweißtropfen über die Wangen liefen. Wahrscheinlich roch er jetzt unter den Armen. Von der Bergkuppe aus versuchte er mit Hilfe seiner Karte das Gebiet zu bestimmen, doch es gelang ihm nicht zu seiner Zufriedenheit, und er beschloß, den Rückweg mit einem Besuch bei Förster Franke zu verbinden. Er wanderte nach Norden durch den Staatsforst, bog nach Osten ab, so daß er an der Straße nach Weinstein herauskam. Er überquerte sie, um weiter durch den Wald hindurch das Forstamt zu erreichen. Als er hinunterstieg und an die Herzensach kam, bemerkte er, daß er sich verschätzt hatte. Er war schon zu weit gelaufen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses lagen Weiden und Felder. Er suchte einen Weg über die Herzensach, doch sie war in diesem Abschnitt wohl einmal gestaut worden und daher viel zu breit und zu tief. Er stieß am Flußufer auf die Grundmauern eines Gebäudes und wußte plötzlich, wo er war. Hier hatte die Sägemühle gestanden, in der die gruselige Geschichte aus des Pastors Buch spielte: Die Söhne des alten Tischlers hatten ihrem Vater alles Geld gestohlen und ihm den Kopf mit seiner von einem Wasserrad betriebenen Säge abgeschnitten. Danach hatten sie behauptet, es wären Räuber gewesen.
Jakob folgte dem Fluß, der in den Wald zurückführte, und fand dort, wo die Ufer einander näher kamen, einen primitiven Holzsteg. Er war sich sicher, daß der daran anschließende schmale, an vielen Stellen überwucherte Pfad zum Forstamt führte.
Bevor er das Haus sah, hatten ihn die Hunde im Zwinger gewittert und durch heftiges Gebell angekündigt. Er ging am Gartenzaun entlang, aber bevor er die Eingangstür erreichte, kam Claudia aus dem Garten. Sie streckte ihm lachend die Hand entgegen: »Oh, alle sprechen von Ihnen. Als ich Sie gestern abend sah, wußte ich nicht, daß Sie berühmt sind.«
»Ich wußte es auch nicht.«
»Vielleicht sollte ich Sie um ein Autogramm bitten?«
»Was redet man denn über mich?«
Claudia sah zum Haus, als vermute sie ungebetene Zuhörer, dann ergriff sie seine Hand (wie weich sie war) und zog ihn verschwörerisch mit sich. »Kommen Sie mit, ich will noch einmal nach unserer Ricke sehen.«
Sie führte ihn tief in den Garten, vorbei an den Hundezwingern, deren aufgeregte Insassen sie mit einem scharfen Wort (wie hart sie sein konnte) zum Schweigen brachte, bis zum Waldrand. Hier war ein kleines Gehege mit einem hüfthohen Zaun abgetrennt, dessen Tor zum Wald offen stand. Sie sah Jakob an, als hätte sie ein Geschenk für ihn und als platze sie vor Neugier auf seine Reaktion. Sie legte den Finger auf die Lippen und lauschte. Dann stieß sie einen zarten Pfiff aus. Nach einer Weile raschelte es im Unterholz, und plötzlich stand ein Reh im Tor des Geheges; langsam kam es näher, zögerte, als es Jakob sah. Claudia streckte ihre Hand aus, und das Tier stakste heran, um sich die Leckereien, ein paar junge Möhren, zu holen. Claudia streichelte das Reh vorsichtig, dann beugte sie sich herab und umarmte es. Jakob betrachtete die das Reh liebkosende Försterstochter. Das Bild kannte er. Er erinnerte sich, daß der Förster ihr Alter genannt hatte, etwa dreißig, doch sie wirkte, als sei sie kaum über zwanzig. (Das Umarmen von Rehen verjüngt ungemein.) Das Gesicht unter der schwarzen Pagenfrisur war glatt, ebenmäßig und vollkommen symmetrisch, und die Augen waren fast so groß und dunkel wie die des Rehes. (Das Umarmen von Rehen macht eine Frau ungemein liebenswert.)
»Wir haben es großgezogen«, erklärte sie. »Es ist uns nie gelungen, es richtig auszuwildern. Es kommt immer wieder, und im Winter verläßt es den Garten oft gar nicht.« (Das Umarmen von Rehen hat etwas ungemein Erotisches.)
Das Tier ließ sich jetzt auch von Jakob streicheln. »Könnte ihm die geringe Scheu vor Menschen nicht zum Verhängnis werden?« Er wußte selbst nicht, wie er das meinte, wollte nur irgend etwas sagen, um den Kitsch und die Klammersätze aus der Situation zu nehmen. Sie sah ihn überrascht an, und für einen Moment befürchtete er, es sei der fragende Blick, mit dem man einschätzt, ob es jemand mit Rehen treibt oder nicht. Doch dann stöhnte sie: »O ja, es verursacht mir Albträume. Ich habe solche Angst, daß es überfahren wird, so wie seine Mutter.« Sie löste sich von dem Tier. »Aber was soll ich machen? Ich kann es doch nicht
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