Herzensach - Roman
gehalten hatte, nämlich daß seine Frau nicht wußte, wer die Auserwählte des Gutsherrn war, und registrierte gleichzeitig, daß in ihr etwas vorging, was seine Flucht dringend notwendig machte. Bevor er die Ausgangstür erreichte, streckte sie ihn mit einem Schlag des Grußkartenständers nieder.
Vielleicht wäre Dorothee Wischbergs Wut mit diesem Schlag verraucht gewesen, wenn ihr Mann nicht nach vorn gefallen wäre und versucht hätte, sich mit den Händen abstützend, wieder hochzukommen. Diese Stellung erinnerte sie so sehr an seine Begattung des Schafes, daß sie mit aller Kraft am Zeitschriftenregal zerrte, um es aus dem Gleichgewicht zu bringen und über ihm zusammenstürzen zu lassen.
Atemlos stand sie da, hörte das Wimmern ihres Mannes unter dem Regal. Sie nahm die Bewegung wahr, wie er sich von der Last zu befreien versuchte und es nicht schaffte, und das schien ihr so, als würde das Regal ihren Mann begatten – eine gerechte Strafe. Ihre Wut war wie weggeblasen, und das Chaos im Eingang ihres Laden löste nun bei ihr ein hysterisches Lachen aus. Sie lachte weiter, selbst als der Student die Ladentür aufstieß und mit erschrockenem Gesicht stehenblieb.
Sie lachte und sah zu, wie Jakob Finn die unter dem Regal herausragenden Arme des Wirtes entdeckte, an ihnen zog. Sie lachte noch immer, als er das Regal aufstellte, den Wirt von den Zeitungen und Zeitschriften befreite und ihm auf die Beine half.
Erst als beide Männer sie anstarrten, ging ihr Lachen in ein Glucksen über und erstarb.
Peter Wischberg humpelte stöhnend ein paar Schritte zur Seite und faßte sich ans Kreuz, aber er schien nicht ernsthaft verletzt zu sein.
»Was ist passiert?« fragte Jakob Finn.
»Der Gutsherr wird heiraten«, sagte der Wirt, ergriff jetzt seinerseits den runden Grußkartenständer und versuchte sich damit auf seine Frau zu stürzen.
Die Antwort verwirrte Jakob Finn so sehr, daß er nicht einschritt. Doch Dorothee Wischberg hatte das Unheil kommen sehen und war der plumpen Bewegung ihres Mannes ausgewichen. Und während er über das Drahtgestell fiel, fragte sie, als wäre nichts geschehen, den Studenten: »Sie wünschen?«
»Ich brauche Ihre Hilfe!«
Peter Wischberg kam hoch und drückte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände gegen die Brust.
»Ich bringe dich um«, sagte er langsam zu seiner Frau. Sie zeigte nach draußen, als wäre die Straße der geeignete Platz dafür.
Dem Studenten gelang es, beider Aufmerksamkeit zu erhalten. »In der Kurve am Dorfeingang liegt ein Mann.« Als beide ihn fragend ansahen, ergänzte er: »Er ist weder betrunken noch verletzt. Ich weiß nicht, was er hat.«
Zu dritt eilten sie die inzwischen vollkommen dunkle Dorfstraße hinunter. Die Wolken flohen vor ihnen, rissen kurz auf, um dem Mond Gelegenheit für ein kaltes und hastiges Signal zu geben. Eine Windbö bürstete die Baumwipfel. Dann standen sie über den Mann gebeugt. Der Wirt lächelte hilflos, setzte zu einer Erklärung an, aber seine Frau nahm ihm das Wort, erklärte, es handle sich um eine seltene Form der Katatonie, eine Art Trance, genetisch bedingt, nur hier im Ort anzutreffen, er solle sich keine Sorgen machen, sie und ihr Mann würden sich um alles kümmern.
Sie schickten ihn weg. Er schwankte einen Augenblick, als wäre er ein vom Wind bewegter Baum, dann ging er. Er glaubte ihr nicht.
30
Jakob erwachte und vermißte das Geräusch, das ihn gestern lange am Einschlafen gehindert hatte. Es war vollkommen still im Raum. Zahllose große Fliegen waren am Abend in der Dachwohnung umhergeschwirrt, und es war ihm nicht gelungen, sie durch das Fenster zu verscheuchen. Jetzt waren sie alle fort. Aber vielleicht saßen sie nur bewegungslos in den Falten der Bettwäsche, auf den Lampen und Wänden. Wenn er sich bewegte, aufstand, würden sie alle gleichzeitig wieder zu fliegen beginnen. Er hob den Kopf, aber alles blieb ruhig. Er ließ den Blick suchend über Decke und Wände gleiten. Es waren keine Fliegen da. Er richtete sich auf, wollte gerade seine Beine aus dem Bett schwingen – da sah er sie. Er zuckte zurück. Sie lagen tot über den Fußboden verstreut. Entweder war dies ihr letzter Lebenstag gewesen, und sie waren in diesem Bewußtsein noch einmal mit aller Lust geflogen, oder es lag Gift in der Luft, etwas, das schon gestern abend ihre Sinne so weit verwirrt hatte, daß sie nicht mehr aus dem Fenster hinausfanden. Jakob schnupperte, doch so kurz nach dem Erwachen konnte er noch keine Gerüche
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