Herzensjunge
hoch.
Erst sehe ich nur dunkle, lange Haarsträhnen. Doch dann streicht eine Hand die Haare aus dem Gesicht, und ich erkenne Hanna, die zu schluchzen anfängt. Ich stimme darin ein, ohne lange zu zögern.
»Was tust du da oben?«, schluchze ich und klinge hysterisch vor lauter Anspannung, die sich langsam löst.
»Und du da unten«, sagt Hanna. Sie wischt sich Tränen ab.
Wir scheinen beide in diesem Augenblick nicht die Hellsten zu sein, denn wir bleiben wie angewurzelt in unseren Stockwerken stehen, statt diese Treppe zu überwinden und uns in den Armen zu liegen.
Hält uns was anderes zurück?
Dann kommt Hanna hinunter.Vorsichtig, als fürchte sie zu fallen.
»Seit wann weißt du, dass ich hier bin?«, fragt sie.
»Seit zwei Stunden«, sage ich. Das könnte hinkommen.
»Weiß es sonst noch jemand?«
Was soll das? Will sie bleiben und mich zum Schweigen verpflichten?
»Ich habe es keinem gesagt. Als mir der Gedanke kam, dass du hier sein könntest, bin ich gleich losgegangen.«
Hanna nickt. Dann hebt sie die Arme und hält sie halb in der Luft, als wolle sie erste Übungen fürs Fliegen machen. In der einen Hand hält sie einen Schlüsselring
mit großen eisernen Schlüsseln. Das behindert natürlich. Doch es wird noch eine Umarmung aus dieser Übung fürs Fliegen. Ziemlich krampfig am Anfang. Erst im nächsten Moment fühlt es sich an wie früher.
»Bist du auf dem Dachboden gewesen?«, frage ich.
Hanna nickt. »Da oben sollen noch Decken sein. Ich hab die Tür zu dem Verschlag nicht aufgekriegt.«
»Lilli und Karla?«
»Sind unterwegs. Die anderen auch.«
»Kommst du mit mir mit?«, frage ich. Die Glühbirne erlischt wieder und ich sehe Hannas Gesicht nicht. Ich habe das Gefühl, sie verzieht es gerade.
»Die Hettich ist untergetaucht«, sage ich.
»Sind meine Eltern sehr sauer?«
»Sie machen sich wie verrückt Sorgen«, sage ich, »die Kriminalpolizei soll jetzt drangesetzt werden.«
»Ich friere dauernd«, sagt Hanna.
»Das sind die Nerven«, sage ich.Auch so eine Weisheit von Oma. Omas Herzoperation fällt mir ein. Gibt wirklich noch andere Probleme als dieses hier. An Jan wage ich kaum zu denken.
»Ich habe ja nur den Kram dabei, den ich in der Schule anhatte«, sagt Hanna, »nichts Warmes«.
»Kommen Lilli und Karla gleich zurück?«
»Die sind zu einer Bekannten aufs Land gefahren. Bis Sonntag.«
Die haben ja einen an der Klatsche, Hanna hier allein hocken zu lassen.
»Ich komme mit«, sagt Hanna, »ich hole nur noch meine Tasche.«
Sie schließt die Tür auf, die tatsächlich nur dieses eine
Schloss für den vorsintflutlichen Schlüssel hat, und wir gehen in die Wohnung. Der Flur ist dunkel, nur im hinteren Zimmer am Ende des Ganges ist volles Licht angeschaltet. Da, wo die Sitzlandschaft steht.
»Hast du keine Angst hier alleine?«, frage ich.
Hanna antwortet nicht. Sie geht in das hintere Zimmer. Ich folge ihr.
Tja. Das ist der Partyraum. Jetzt sieht er noch weniger einladend aus, als ich ihn in Erinnerung habe. Liegt wohl daran, dass diesmal keine roten Tücher über den Lampen hängen. Auf einem Teil der Sitzlandschaft ist ein dürftiges Lager gebaut. Kissen liegen da und ein Haufen Klamotten.
Hanna stopft ein paar Teile in die Tasche mit der glitzernden Krone drauf, die sie neuerdings als Schultasche nimmt. Sie hebt eine Schachtel Kekse auf und zögert. Dann lässt sie die Schachtel fallen.
»Komm jetzt«, sage ich. Ich habe es nun eilig. Eigentlich sollte sich Hanna schleunigst bei ihren Eltern melden.
»Ist dein Handy kaputt?«, frage ich. »Die Leitung ist tot.«
»Das liegt in der Alster. Hat Kalli hineingeworfen.«
Ich schaue sie entgeistert an. Hanna hatte ein erstklassiges Handy. Konnte man alles mit machen. Außer Schneiden und Föhnen. Das wirft doch keiner ins Wasser.
»Warum denn das?«, frage ich.
»Wir haben uns gestritten. Ich hatte ihn angerufen, nachdem ich aus der Schule weggelaufen war. Er wollte sich drücken.«
»Vor was?«, frage ich. Kann sein, dass ich hier nicht die intelligentesten Fragen stelle, und ich bin ja auch kein Fan von Kalli. Doch an dem Kack in der Erdkundestunde hat er nun wirklich keine Schuld.
»Vor der Verantwortung für unsere Beziehung. Auf einmal findet er uns beide viel zu jung für alles. Immerhin ist er schon fünfzehn.«
»Wolltest du ihn denn heiraten, oder was?«, frage ich. Klingt Spott mit. Ich sollte mich zurückhalten. Habe ich mir nicht erst heute Nachmittag vorgestellt, Kinder von Jan zu kriegen? Der ist
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