Herzensjunge
zu.
Soll ich Andreas sagen, dass ich die Schule schwänzen und nach Husum fahren will? Bei Tageslicht betrachtet, scheint mir die Idee auf einmal unsinnig. Ich weiß doch gar nicht, wohin. Soll ich zum Amtsgericht gehen? Nach dem Haus mit den hohen Fenstern suchen, das irgendwo nah am Meer steht?
»Lass uns mal abwarten, ob er heute in der Schule ist«, sagt Andreas. »Geht Hannas Kalli nicht aufs Albert-Schweitzer?«
»Hanna hat gar kein Handy mehr«, sage ich.
»Ich habe mir ein Handy zu Weihnachten gewünscht«, sagt Andreas, »ich bin gespannt, ob der Weihnachtsmann mir eines bringt.«
»Wahrscheinlich eher das Christkind«, sage ich.
Mein großer Bruder grinst. Er ist deutlich gelassener als ich.
»Und wenn Jan nicht in der Schule ist?«, frage ich.
Die Klotür öffnet sich und Papa kommt heraus. Hat er das gehört?
Nein. Er verschwindet im Badezimmer, ohne lästige Fragen zu stellen.
»Wenn sich bis heute Abend bei denen nichts tut, spreche ich mit Lenas Vater«, sagt Andreas, »schließlich geht es um seinen alten Studienfreund.«
84
Ein Wunder, dass ich mich auf Tennyson und seinen Platz in der viktorianischen Literatur konzentrieren konnte. Die Hand, mit der ich den Füller gehalten habe, war ziemlich zittrig.
Hanna hat Kalli auf dem Handy erreicht, nachdem sie die nette Sekretärin der König gefragt hat, ob sie im Vorzimmer der Direktorin telefonieren dürfe. Es sei ein Notfall. Das war nicht mal gelogen.
Kalli sagte, Jan sei nicht da. Man hätte ihn im Orchester vermisst. Der Musiklehrer war wohl sauer, weil Jan sich nicht mal abgemeldet hätte.
Ich bin jetzt sicher, dass etwas passiert sein muss.
Jan würde niemals die Proben sausen lassen, schon gar nicht, ohne sich zu entschuldigen.Was soll ich nur tun?
Die nächsten zwei Unterrichtsstunden nehme ich durch einen Schleier wahr.Wenigstens haben wir heute wegen einer Schulkonferenz nach der Sechsten Schluss. Ich werde gleich zu Jans Wohnung gehen.
Hanna hat versprochen, mich sofort zu informieren, wenn Kalli was Neues weiß.Wer hätte gedacht, dass mir Kalli noch mal nahestehen würde?
Ich stehe vor Jans Haus und gucke zum ersten Stock hoch.
Kein Licht hinter den Fenstern, trotz der Düsternis des Himmels.
Doch das heißt nichts. Jens Torge scheint mir kein Händchen dafür zu haben, Gemütlichkeit zu schaffen. Dass ich ohne Folgen lange und anhaltend klingele, ohne
dass sich in der Wohnung etwas regt, ist aber leider eindeutig.
Eine ältere Frau mit schweren Tüten in der Hand kommt und kramt einen Schlüssel hervor. »Kann ich dir helfen?«, fragt sie.
»Ich warte auf die Torges«, sage ich. »Sie müssten bald kommen.«
Wenn es doch nur so wäre.
»Sind das der Vater und der Sohn aus dem Ersten?«, sagt die Frau. »Die sieht man kaum. Sie wohnen noch nicht lange hier.«
»Ich weiß«, sage ich und halte ihr die Tür auf. »Hätten Sie was dagegen, wenn ich drinnen warte?«
Sie betrachtet mich von oben bis unten. »Nein«, sagt sie, »drinnen ist es wärmer. Gehst du mit dem Jungen zur Schule?«
»Ja«, sage ich der Einfachheit halber.
Sie nickt und verschwindet dann in einer Wohnung im Erdgeschoss.
Ich gehe die zwei Treppen hoch. Noch immer hängt nur der Zettel an der Tür, auf dem »Jens und Jan Torge« steht. Ich drücke auch hier lange auf den Klingelknopf. Das Klingeln ist laut zu hören.
Ich setze mich auf die Stufen und warte. Ein ganzes Leben ist es her, dass ich in einem Haus im Schanzenviertel auf der Treppe saß und auf Lilli und Karla wartete und Hanna fand.
Der Tag hinter dem Fenster zum Hof wird immer dunkler. Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon sitze, als mich die Klingel aus Gedanken reißt, die so dunkel sind wie der Tag.
Ich kriege Herzklopfen. Ist es Jan, der keinen Schlüssel hat? Sein Vater?
Es klingelt zu ausdauernd für jemanden, der nur Werbung in den Kasten werfen will. Ich stehe auf und steige die Treppen hinunter und öffne die Haustür. Mein großer Bruder steht dort.
»Schwesterlein«, sagt er und sieht mich mitleidig an.
»Weißt du was Neues?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. »Ich dachte, du«, sagt er.
Ich falle in mich zusammen.
»Jan war nicht in der Schule«, sage ich, »er hätte Orchesterprobe gehabt und hat sich nicht mal abgemeldet.«
»Dann lass uns zu Lena gehen«, sagt er.
»Ist ihr Vater denn schon zu Hause?«
»Wir versuchen es einfach«, sagt Andreas.
Er scheint auch nicht mehr gelassen zu sein.
85
Lena öffnet die Tür. Sie trägt einen Kimono. In der
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