Herzensjunge
Torge. Er saß im Haus, in dem Zimmer, in dem Lenas Vater ihn vermutet hatte. Hat lange gedauert, bis er uns geöffnet hat. Steffen ist ums Haus gegangen und hat an die Fenster geklopft.«
Warum sagt er nichts von Jan? Mir wird schlecht.
»Und Jan?«, frage ich.
»Verzeih«, sagt mein großer Bruder, »ich hätte damit anfangen sollen.«
Gleich falle ich in Ohnmacht.
»Jan hatte eine Art Nervenzusammenbruch. Er ist hier im Husumer Klinikum. Sie wollen ihn noch ein paar Tage dabehalten.«
»Hast du ihn gesehen?«, frage ich.
»Steffen hat kurz mit ihm gesprochen. Auch mit einem Arzt. Steffen wird dir gleich sagen, was er dir ausrichten soll.«
»Wieso hatte er einen Nervenzusammenbruch?«, frage ich.
Lenas Vater ist jetzt dran. »Den hat er mit großer Verspätung bekommen. Ich staune, dass er ihn nicht schon vor Monaten hatte«, sagt er.
»Und warum gerade jetzt?«, frage ich.
»Vielleicht konnte er es nicht mehr aushalten, im Zimmer seiner Mutter zu sitzen und so zu tun, als käme sie jeden Moment hinein.«
»Dann gehört doch Jans Vater behandelt und nicht Jan«, sage ich leise.
»Ja«, sagt Steffen, »das wird auch so kommen.«
Ich fange an zu weinen. Nicht weil die Nachricht so schlimm ist.Weil die Spannung weicht.
»Antonia«, sagt Lenas Vater, »es wird alles gut werden. Und ich soll dir von Jan, sagen, dass er dich liebt.«
Ich fange an zu schluchzen. Jetzt steht auch Papa vor meinem Zimmer.
Ich höre Andreas sagen, dass sie sich jetzt auf den Weg machen und in zwei Stunden zu Hause sein werden.
88
Als wir aufstehen, ist Andreas noch viel müder als ich. Nur Adrian ist der wachste Mensch auf Erden. Die Tür zum großen Balkonzimmer ist verschlossen. Mein kleiner Bruder springt davor herum.
Alles ist wie immer. Mama öffnet die Tür, und wir gehen hinein und staunen, dass der Nikolaus heute Nacht gekommen ist.
In unseren Schuhen glitzern Süßigkeiten. Auch die Chucks in Größe 44 sind bis obenhin gefüllt.Adrian hat ein Buch neben seinen Schuhen liegen, »Weihnachten
bei Petterson und Findus«. Andreas hat eine CD bekommen, ich ein Päckchen von Magic .
Als ich es öffne, bin ich wach genug, um einen kleinen Freudenschrei auszustoßen. Es sind die Ohrringe mit den silbernen Engeln, die ich mir schon lange gewünscht habe.
Mama bietet mir und Andreas an, zu Hause zu bleiben. Papa ist damit nicht wirklich einverstanden, das ist ihm anzumerken. Ich nehme das Angebot an, Andreas dagegen will in die Schule. Er wird mich entschuldigen.
Ich gehe in mein Zimmer und gucke zum hundertsten Mal auf den Zettel, den mir mein großer Bruder gestern Nacht gegeben hat.
Der Zettel ist der eigentliche Grund, warum ich zu Hause bleibe.
Eine Telefonnummer steht darauf. Von der Station, auf der Jan ist. Ein eigenes Telefon hat er nicht. Er hat wohl vor allem geschlafen.
Sie werden ihm Tabletten zur Beruhigung gegeben haben.
Ich warte bis acht. Dann rufe ich an. Nur Mama ist noch da. Doch sie respektiert meine geschlossene Zimmertür.
Die Schwester gibt mich an eine Ärztin weiter. Die trägt das Telefon zu Jan. Als er zu sprechen anfängt, klopft mein Herz so heftig, dass er es am anderen Ende der Leitung hören wird.
»Du hast dir solche Sorgen gemacht«, sagt Jan, »doch ich hatte seit Dienstagabend keine Chance, dich anzurufen.«
Ich schlucke und setze zu einer Antwort an.
»Was ist passiert?«, frage ich endlich.
»Ich konnte nicht mehr«, sagt Jan. Er spricht so leise, dass ich ihn kaum verstehe. Ich presse mein Ohr ans Telefon, als könnte ich zu ihm durchkriechen.
»Jens steht vor Gericht, weil sie gestorben ist, und danach setzt er sich in ihr Zimmer und tut so, als ob das alles ein Irrtum sei und sie gleich in der Tür stehen wird. Ich habe nur noch geschrien, ich konnte nicht mehr aufhören.«
»Braucht dein Vater nicht dringend einen Arzt?«, frage ich.
»Doch«, sagt Jan, »Steffen wird ihn in eine Klinik in Brandenburg bringen. Er soll nicht ständig aufs Meer starren.«
»Und wann kommst du zurück?«, frage ich.
»Ich werde bis nächsten Dienstag in der Klinik bleiben«, sagt Jan. »Aber wo soll ich danach hin?«
»Meine Oma hat dir doch das Zimmer angeboten«, schlage ich vor.
»Ja, vielleicht sollte ich das Angebot wirklich annehmen«, sagt Jan. »Allein in der Wohnung sein, das will ich nicht.«
»Werdet ihr sie nicht aufgeben?«, frage ich.
»Nein. Ich will mit Papa dort leben, wenn er wieder gesund ist. Das Haus in Husum werden wir aufgeben. Steffen kümmert sich
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