Herzensjunge
darum.«
»Hast du eben Papa gesagt?«
»Ja«, sagt Jan. »Wurde wohl Zeit, dass ich ihn mal wieder so nenne. Ich liebe dich,Toni.«
»Ich dich auch«, sage ich.
89
Mama steht in der Küche und brät Wiener Schnitzel. Papa ist nicht verreist. Er kann jeden Moment nach Hause kommen. Ich glaube es nicht.
»Mein Nikolausgeschenk an dich«, sagt sie, kaum dass er eingetroffen ist, »eine Frau, die keine Geheimnisse vor dir hat.«
Papa guckt in die Pfannen und versteht die Welt nicht mehr.
»Ich dachte, du unterstützt den vegetarischen Gedanken«, sagt er, »und so streng habe ich ihn doch nicht umgesetzt. Denke an die Hühnerbrüste auf Haut und den Krabbensalat.«
Mama lacht. »Du wirst nicht gezwungen, Schnitzel zu essen«, sagt sie.
Papa zaudert. Es ist ihm unangenehm, dass wir alle in der Küche stehen und zugucken, wie er sich entscheiden wird.
»Wenn sie nun schon mal in der Pfanne sind«, sagt er schließlich.
Ich staune, dass es doch noch ein guter Tag geworden ist. So hat es gestern nicht ausgesehen. Ich umarme Andreas, der gar nicht weiß, wie ihm geschieht.
Oma wird gleich kommen. Ich habe ihr alles erzählt.
Jan kann das Zimmer haben. Ihr Angebot steht.
»Ich nehme an, dass du meine Mutter über den Speiseplan informiert hast«, sagt Papa. »Diesen Triumph gönnst du ihr doch.«
»Hat Oma auch schon versucht, dir Schnitzel zu braten?«, fragt Adrian.
»Ja«, sagt Papa, »und sie wird begeistert sein, dass ich von eisernen Prinzipien abrücke.«
»Es gibt Gurkensalat dazu«, sagt Mama. »Wenn es dir lieber ist, kannst du auch nur Gurkensalat und Salzkartoffeln essen.«
Fünf Menschen sitzen um den Tisch und gucken fasziniert zu, wie ein Sechster Wiener Schnitzel isst. Er tut es mit großem Genuss.
»Ich glaube es nicht«, sagt Oma, »mein kleiner Bob. Ich will ja Läuterungen nicht am Verzehr von Fleisch festmachen, doch ich glaube, du lockerst dich in jeder Hinsicht, Sohn. Es macht mich glücklich, wenn du das Leben mehr genießt. Du hast es verdient.«
Papa guckt sie an. Er ist ganz fassungslos von ihrer Ansprache.
»Ich habe auch eine Neuigkeit«, sagt Oma, »eigentlich sogar zwei Neuigkeiten.«
»Du heiratest Opa«, sagt Adrian.
Oma lacht. »Nein«, sagt sie, »das nun wirklich nicht. Einmal genügt.«
Ich gucke sie an. Ich kenne nur eine.
»Jan wird bei mir wohnen«, sagt Oma, »bis sein Vater wieder gesund ist und sie wieder gemeinsam in die Gryphiusstraße ziehen.«
Papa und Adrian sind die Einzigen, die das noch nicht wissen. Doch sie verkraften diese Neuigkeit ganz gut.
»Und die zweite?«, fragt Papa.
Alle gucken Oma hochinteressiert an.
Sie schneidet ein Stück vom Schnitzel ab und pikst eine Gurkenscheibe auf die Gabel. Oma genießt die allgemeine Spannung.
»Es gibt einen neuen Mann in meinem Leben«, sagt sie.
Papa atmet aus, und es klingt, als habe er das Ventil einer Luftmatratze geöffnet. Wir atmen alle aus, doch weniger dramatisch.
»Er hat ein Haus in Blankenese«, sagt sie, »direkt an der Elbe. Ich werde jetzt öfter mal hin- und herpendeln zwischen den beiden Wohnsitzen.«
Oma lächelt. »Er ist Herzspezialist«, sagt sie.
90
Ein bisschen traurig bin ich schon, als Hanna mir erzählt, dass sie am Abend zum Weihnachtskonzert des Albert-Schweitzer-Gymnasiums gehen wird. Ich hatte ganz vorne sitzen und Jan zujubeln wollen.
Morgen kommt Jan wieder nach Hamburg. Lenas Vater holt ihn ab.
Jens Torge ist in einer Klinik in Brandenburg. Er wird dort wahrscheinlich den ganzen Januar bleiben.
Das Leben ist schon komisch.Wer hätte im Oktober gedacht, dass kaum zwei Montate später Hanna einem blockflötenden Kalli lauschen wird, Jan zu Oma zieht, Oma uns einen neuen Liebhaber vorstellt, der ihr Herz operiert hat, und Papa wieder Schnitzel isst?
Meine Eins in Deutsch gehört auch zu den unerwarteten Ereignissen.
Hagen hat mir die Arbeit zurückgegeben und gesagt, dass ich den kleinen Leinenband mit den Gedichten von Tennyson behalten darf.
Es fängt schon an, dunkel zu werden, als ich zu Oma gehe. Dabei ist es gerade erst Viertel nach vier. Noch elf Tage bis zur Sonnenwende. Dann wird es von Tag zu Tag heller werden.
Andreas hat mir ein Foto von Jan geschenkt. Ich hatte keines. Es ist an der Alster aufgenommen worden. Mein großer Bruder ist der Fotograf. Fast bin ich eifersüchtig, dass Jan auch mit ihm da entlanggegangen ist.
Jan sitzt auf einer Bank, die unsere Verlobungsbank sein könnte. Er hat die Arme über die Lehne gelegt und blickt ernst in
Weitere Kostenlose Bücher