Herzflimmern
Lenores Finger von ihrer Hand.
»Ich hole jemanden. Sie brauchen keine Angst zu haben, Lenore. Es wird schon alles gut.«
Aber draußen im Korridor war das Chaos ausgebrochen. Die schwangere Frau, die bei dem Unfall auf dem Highway verletzt worden war, wurde gerade in den Kreißsaal geschoben. Sechs Leute bemühten sich um sie, schnitten ihr die blutigen Kleider vom Körper, hielten ihr eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht, schoben ein Atemgerät heran, schalteten den Defibrillator ein. Alle, die nicht bei dem Kaiserschnitt im Nebenraum beschäftigt waren, kämpften um das Leben dieser Frau und ihres Kindes.
Ruth wußte nicht, was sie tun sollte. Dann entdeckte sie Mrs. Caputo und rannte zu ihr.
»Das Mädchen bekommt gleich –« begann sie.
Doch die Oberschwester stieß sie brüsk zur Seite. »Verschwinden Sie, Sie {70} sind hier im Weg. Das Mädchen ist Dr. Turners Patientin. Er kümmert sich schon um sie. Wenn Sie hier nochmal dazwischenfahren, lasse ich Sie rauswerfen.«
Ruth rannte wieder zu Leonore ins Zimmer. Sie war sich gar nicht bewußt, daß sie das Mädchen jetzt als ihre eigene Patientin betrachtete. Mein Gott, dachte sie erschrocken, als sie Lenore mit einer neuen Wehe kämpfen sah, das Kind kommt wirklich. Lenores Bauch hob und senkte sich, die Decke rutschte herunter, während das Mädchen wieder laut aufschrie.
Als Lenore erschöpft wieder in die Kissen sank, packte sie mit einer blitzschnellen Bewegung Ruths Handgelenk. »Helfen Sie mir«, flüsterte sie heiser. »Bitte, helfen Sie mir!«
Ruth versuchte loszukommen, drehte sich in Panik nach der Tür um. Wenn sie um Hilfe rief, würde das Lenore Angst machen. Sie mußte sich wenigstens den Anschein geben, als sei sie völlig ruhig.
Lenore krampfte sich in einer neuen Wehe zusammen, und Ruth wurde mit Erschrecken klar, daß sie das Mädchen jetzt nicht allein lassen konnte.
Lieber Gott, lieber Gott, betete sie lautlos, während sie sich am Seitengitter des Betts zu schaffen machte. Wo ist die Klingel? Warum haben sie hier keinen Notruf? Warum schaut nicht wenigstens mal jemand hier herein?
Bei der nächsten Wehe sah sie kurz den Scheitel des kleinen Kopfes.
Zitternd zog sie ein Paar Gummihandschuhe aus dem Karton wie vorher Dr. Turner das getan hatte, und streifte sie über. Dann postierte sie sich entschlossen zwischen Lenores gespreizten Beinen. Bei der nächsten Wehe streckte sie beide Hände aus, um, wie sie das in einem ihrer Lehrbücher gelesen hatte, das glitschige kleine Wesen aufzufangen. Aber das Ungeborene richtete sich nicht nach dem Lehrbuch. Der Kopf wich wieder zurück, und Lenore entspannte sich keuchend.
Jetzt hole ich jemanden …
Aber da tauchte der Kopf schon wieder auf, und diesmal gewahrte Ruth mit Entsetzen, daß etwas wie eine Schlinge um den Kopf des Ungeborenen lag. Kalter Schweiß brach ihr aus allen Poren, und einen Moment lang hatte sie das schreckliche Gefühl, ohnmächtig zu werden. Die Schlinge konnte nur eines sein: die Nabelschnur.
»Warten Sie«, sagte sie zu Lenore. »Pressen Sie das nächstemal nicht.«
»Ich kann nicht anders. Ich kann es nicht zurückhalten.«
»Nein! Nicht pressen –«
Schon kam die nächste Wehe, schon zeigte sich wieder das kleine Köpf {71} chen. Ruth sah, wie die rötliche Nabelschnur, die über dem Schädel lag, sich weiß färbte, als der Kopf am Beckenausgang auf sie drückte. Sie wußte, was das bedeutete. Mit jedem Stoß auf die Nabelschnur, wurde die Versorgung des Ungeborenen mit Blut und Sauerstoff von der Mutter unterbrochen. Wenn das so weiterging, würde das Kind noch vor der Geburt sterben.
Ruth war sich nicht bewußt, daß sie zu weinen angefangen hatte. Durch einen Tränenschleier sah sie ihre eigenen Hände, die instinktiv, wie von selber, in die Vagina glitten. Ihre Finger fanden den weichen kleinen Kopf, fühlten die pulsierende Nabelschnur und hielten bei der nächstene Wehe den Kopf von der Nabelschnur weg. Doch als die Entspannung kam, fühlte Ruth, daß die Nabelschnur wieder über den Kopf fiel, und wußte, daß sie bei der nächsten Wehe erneut abgedrückt werden würde.
Ohne zu überlegen, sprang sie vom Bett, rannte zum Fußende und begann wie eine Wahnsinnige zu kurbeln. Langsam hob sich das Fußende, so daß Lenore schließlich, den Kopf etwas tiefer als den Unterkörper, in Schräglage zu liegen kam. Nachdem Ruth das geschafft hatte, eilte sie wieder an ihren Platz und wartete auf die nächste Wehe. Diesmal wurde die Nabelschnur nicht so
Weitere Kostenlose Bücher