Herzflimmern
fest abgedrückt, aber eingeklemmt wurde sie dennoch. Ruth schob eine Hand in die Vagina und hielt wieder den kleinen Kopf.
Stundenlang, schien ihr, ging es so: Lenore schrie und preßte, und Ruth umschloß mit ihren Fingern das kleine Köpfchen, um es von der Schnur fernzuhalten. Immer wieder, immer wieder. Als sie schließlich um Hilfe rief, war sie sich dessen überhaupt nicht bewußt, hätte nicht sagen können, wie oft sie gerufen hatte, doch als endlich jemand ins Zimmer kam und »Ach, du lieber Gott!« rief, weinte sie laut auf, und als eine Schwester sie ablöste, brach sie schluchzend zusammen. Jemand nahm sie in den Arm und führte sie zu einem Stuhl. Sie hörte schnelle Schritte und das Quietschen des Bettes, das aus dem Zimmer geschoben wurde. Dann war es still.
Einige Minuten später kam eine besorgte Schwester und brachte ihr eine Tasse Kaffee. Sie zog ihr die blutigen Handschuhe von den Händen und ließ sie dann wieder allein. Ruth beruhigte sich langsam. Sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen hatte, als ein Mann in Grün hereinkam, den sie nicht kannte. Er musterte sie mit fragendem Blick und stellte sich ihr als Dr. Scott vor.
»Ich kenne Sie leider nicht«, sagte er, während er sich einen Stuhl heranzog und nach einem Namensschildchen auf dem Revers ihres Kittels suchte. »Sind Sie eine Schwester?«
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Ruth schluckte. Sie hatte sich beruhigt, aber sie war immer noch ein bißchen zittrig.
»Nein, ich bin Medizinstudentin.«
»Ach so. Drittes Jahr? Oder viertes?«
»Erstes.«
Er zog die Brauen hoch. »Studentin im ersten Jahr? Was tun Sie denn hier?«
Sie berichtete von dem Kurzpraktikum.
»Aha, Sie bekommen also eine erste Kostprobe von der praktischen Arbeit des Arztes«, meinte er mit einem freundlichen Lächeln. »Das finde ich sehr gut. Als ich studierte, bekamen wir erst im dritten Jahr zum erstenmal ein Krankenhaus von innen zu sehen. Das war ein ganz schöner Schock, sage ich Ihnen. Ich wurde ohnmächtig, als ich meine erste Rückenmarkspunktierung sah.«
Er schwieg und sah sie einen Augenblick forschend an. »Und hat dieses Erlebnis Sie nun von der Medizin abgebracht?«
»Nein.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Sie haben sicher schon Erfahrung mitgebracht? Haben Sie mal als Hilfsschwester gearbeitet?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sie hatten überhaupt keine Erfahrung?« fragte er ungläubig. »Das war Ihre erste Entbindung?«
»Ja.«
Die Arme auf der Brust verschränkt, lehnte er sich zurück. Auf seinem Gesicht war ein Ausdruck, den Ruth nicht recht deuten konnte. »Das ist wirklich erstaunlich. Sie wußten genau, was Sie zu tun hatten. Sie sind nicht in heller Panik davongelaufen, sondern Sie haben bei ihr ausgehalten.«
»Ich hab angefangen zu heulen.«
Er zuckte die Achseln. »Das passiert uns allen irgendwann mal. Sie haben es jetzt schon hinter sich.« Er betrachtete sie nachdenklich. »Wollen Sie Geburtshilfe machen?«
»Allgemeinmedizin.«
»Überlegen Sie mal, ob Sie sich nicht doch spezialisieren wollen. Leute wie Sie, können wir hier gebrauchen.«
Ruth sah ihn mit großen Augen an. Dann glitt ihr Blick durch das Zimmer, über die alberne Tapete, das Poster an der Tür, zu der leeren Stelle, wo Lenores Bett gestanden hatte. Hier? dachte sie.
»Wie geht es Lenore?«
»Gut. Sie hat einen gesunden kleinen Jungen zur Welt gebracht. Dank Ihrer tatkräftigen Hilfe. Möchten Sie ihn sehen?«
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»Gern.«
Sie standen auf, und Dr. Scott führte sie am Arm aus dem Kreißsaal hinaus.
9
»Tut es weh?«
»Nur die Spritzen. Und hinterher, wenn die Wirkung des Xylocains nachläßt.«
Während Dr. Novack sich die Instrumente zurechtlegte, wandte sich Mickey ab. Sie wollte sie nicht sehen. Sie schaute zum Fenster hinaus, von wo man den Pazifischen Ozean sehen konnte, der grau unter dem Februarregen lag.
»Haben Sie Angst, Mickey?«
»Ja.«
»Möchten Sie ein Beruhigungsmittel?«
»Nein.«
In den sieben Tagen, seit sie sich zu der Behandlung bereit erklärt hatte, hatte Mickey versucht, sich auf diesen Moment vorzubereiten, aber all seine beruhigenden Zusicherungen schienen sich im grauen Regen aufzulösen. Es war eben doch nur ein Experiment: keine Garantie.
In der Neujahrsnacht vor fast zwei Monaten hatte Dr. Novack sie am Arm festgehalten und gesagt: »Ich glaube, ich kann Ihr Gesicht in Ordnung bringen.« Danach hatte sie nicht mehr weglaufen können. Sie hatte sich wieder mit ihm auf die Bank gesetzt, und er hatte ihr erklärt, was er
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