Herzflimmern
Desinfektionsmittel gewaschen. Während sie jetzt, den Kopf nach rückwärts geneigt, das Gesicht der Wand zugekehrt, in dem Stuhl lag, machte Dr. Novack ein zweites Tuch unter ihrem Kinn fest und wusch dann ihre rechte Gesichtshälfte noch einmal mit Desinfektionsmittel. Sie hörte, wie er etwas niederlegte, dann etwas zur Hand nahm und sagte: »Okay, Mickey, jetzt kommen ein paar Einstiche. Das ist das Xylocain.«
Die Spritzen waren unangenehm, aber nicht übermäßig schmerzhaft, und bald danach hatte sie das Gefühl, als löse sich ihre Wange von ihrem Gesicht, schwebe zu Dr. Novack hinüber, um abgelöst von ihr sich seiner Behandlung anzuvertrauen.
»Ich habe mich sehr bemüht, das Pigment auszusuchen, das dem Ihrer Haut am ähnlichsten ist, Mickey. Sie haben eine sehr schöne Haut. Viele Frauen würden Sie darum beneiden, wenn Sie sie nur zeigen würden. Sie sind überhaupt eine sehr schöne Frau, Mickey, aber wie soll das jemand erkennen, wenn Sie immer nur Ihre Nasenspitze zeigen.«
Sie spürte seine Finger auf ihrer Wange. »Ich lege jetzt das Pigment auf.«
Dann hörte sie das Geräusch, bei dem sie am liebsten aufgesprungen und davongelaufen wäre. Das Schnappen eines Schalters und dann das Brummen eines Motors. Sie schloß die Augen und stellte sich vor, was er in der Hand hielt: ein Instrument, das aussah wie ein Füller, mit winzigen Fäden an der Spitze, die auf und nieder tanzten und das Pigment in ihre Haut trieben – die Tätowiernadel.
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Als sie eine Stunde später etwas blaß, etwas zittrig, aber mit einem Lächeln der Erleichterung in den Korridor kam, sprangen Ruth und Sondra auf, wie elektrisiert. Chris Novack hatte den Arm um Mickeys Schulter gelegt und sagte: »Lassen Sie den Verband so lange wie möglich drauf. Wenn irgend etwas los sein sollte, rufen Sie mich sofort an. Kommen Sie am Mittwoch nachmittag wieder, damit ich nachsehen kann. Vergessen Sie nicht, sich immer das Haar zurückzustecken, so lange der Heilungsprozeß dauert. Viel Glück, Mickey.«
Sondra lief zu ihr und umarmte sie, während Ruth, die Hände in die Hüften gestemmt, zurücktrat, um sie zu begutachten. Mit einem Blick auf den Verband und die tiefrote Haut, die darunter hervorschimmerte, sagte sie grinsend: »Du meine Güte, Mickey Long, du siehst aus wie Frankensteins Braut.«
Dann war schon der Mai da, und die Jahresabschlußprüfungen standen vor der Tür.
Je näher die Prüfungen kamen, desto stiller wurde es auf dem Campus. Bald saß man nur noch auf den Zimmern und büffelte. Denn jetzt war der kritische Punkt gekommen; bei dieser Prüfung wurde die Spreu vom Weizen gesondert. Wenn man das erste Jahr schaffte, hieß es allgemein, war der Rest praktisch gelaufen. In der Encinitas Hall herrschte jetzt meist gähnende Leere; höchstens samstags nachmittags und abends traf man hier ein paar Studenten der höheren Jahrgänge an. Das gesellschaftliche Leben auf dem Campus kam zum Stillstand; der Strand verödete; man hängte das Telefon aus und ließ die Post unbeantwortet; in den Fenstern der Wohnheime schimmerte nächtelang Licht.
Die drei in der kleinen Wohnung in der Avenida Oriente waren so besessen wie ihre Kommilitonen. Aber neben der Arbeit für die Prüfung beschäftigte jede von ihnen noch anderes.
Für Ruth galt es, wenigstens einen weiteren Platz in ihrem Jahrgang vorzurücken. Vom zwölften Platz im vergangenen November hatte sie sich im Januar auf den neunten und bei der letzten Zwischenprüfung auf den achten vorgearbeitet. Sie konnte es sich nicht leisten zurückzufallen und war fest entschlossen, nicht an der achten Stelle zu bleiben.
Sondra dachte oft an den langen Sommer, den sie zu Hause bei ihren Eltern verbringen wollte. Es würde wahrscheinlich für lange Zeit das letzte längere Zusammensein mit ihnen sein.
Und Mickey stand kurz vor ihrer letzten Behandlungssitzung bei Dr. Novack.
Niemand hatte sie angestarrt. Gewiß, zu Anfang hatten bei den Vorle {77} sungen ein paar Leute die Köpfe gedreht, sie auf dem Weg über das Campus mit milder Neugier angesehen – hatte sie vielleicht einen Unfall gehabt? – aber bald hatte sich die Neugier gelegt, man hatte sie ignoriert, wie sie das gewohnt war und als angenehm empfand. Nach der ersten Behandlung hatte Mickey die nächste Sitzung kaum erwarten können. Sie war so voller Spannung und Ungeduld, daß sie zu den nachfolgenden Sitzungen fast jedesmal zu früh da war; aber den Spiegel mied sie immer noch. Wenn sie sich wusch,
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