Herzflimmern
Mickey, als träte sie in ein riesiges schwarzes Loch, aber dann hoben sich im schweifenden Lichtstrahl von Jonathans {112} Taschenlampe die Umrisse von Gebäuden aus der Dunkelheit. Sie sah massige Lagerhallen, Ladenbauten mit eingeschlagenen Schaufenstern, von deren Mauern die Farbe abblätterte, Bürgersteige, ein Straßenschild an einem windschiefen Pfosten. Sie sah eine ganze menschenverlassene Geisterstadt.
»Wo sind wir?« flüsterte sie voll Unbehagen.
»Das sind die alten Morgan-Ateliers. Sie wurden in den dreißiger Jahren geschlossen und einfach dem Verfall überlassen.«
Sie drangen noch tiefer in die Finsternis ein, kamen an seltsamen Gebilden vorüber, deren Bestimmung sie nicht erkennen konnten, stolperten über herumliegende Gegenstände, die in der Dunkelheit unkenntlich blieben.
»Alexander Morgan war ein Tyrann und ein Verrückter«, sagte Jonathan mit gedämpfter Stimme, als hätte er Angst, schlafende Geister zu wecken. »Aber er machte hervorragende Stummfilme. Er war ein Genie, aber gegen Ende seines Lebens, als der Tonfilm kam, änderten sich seine Filme. Sie wurden merkwürdig und bizarr, hatten keinen Erfolg mehr, und schließlich machte er Pleite.«
Mickey starrte in die Nacht, versuchte zu sehen, was Jonathan sah, die Faszination zu spüren, die diese geisterhaften Relikte aus einer anderen Zeit für ihn zu haben schienen.
»Warum bist du mit mir hierher gekommen?« fragte sie.
Er blieb stehen und drehte sich nach ihr um. Im blassen Schein der Sterne, der auf seinem Gesicht lag, sah sie die Intensität seines Blicks.
»Ich habe das Gelände gekauft, Mickey«, sagte er. »Ich werde es wieder lebendig machen.«
»Aber – es ist doch völlig zerfallen.«
»Vieles, ja, aber vieles kann man noch retten. Und es geht ja nicht nur um die Gebäude und die Requisiten, Mickey, das Wichtigste ist der Grund. Das Gelände ist ideal gelegen. Als die ersten Filmemacher nach Kalifornien kamen, ließen sie sich hier nieder, weil die Landschaft so spektakulär ist und man das ganze Jahr hindurch Sonne hat. Bei Tageslicht würdest du sehen, daß die Landschaft hier zum Filmemachen wie geschaffen ist.«
Er wandte sich von ihr ab und ließ den Strahl der Lampe über die gespenstischen Bauten schweifen.
»Wenn du nur sehen könntest, was ich sehen kann«, sagte er. »Ich habe nicht vor, mein Leben lang Amateurfilme zu machen, Mickey. Ich möchte große Filme drehen. Ich möchte den Leuten etwas zu sehen geben. Weißt du noch, als wir uns das erstemal begegnet sind? Da sagtest {113} du, du hättest geglaubt, beim Filmen stünden überall riesige Scheinwerfer herum und es wimmle von Menschen. Komm in sechs Monaten wieder hierher, Mickey, dann wirst du genau das sehen.«
Der Funke seiner Phantasie sprang auf sie über, und einen Moment lang sah sie alles, wie er es sah. Aber dann erlosch der Funke, und sie erkannte, warum er sie hierher gebracht hatte: um ihren Traum durch seinen zu verdrängen.
»Heirate mich, Mickey«, sagte er leise, ohne sie anzusehen oder zu berühren. »Bleib hier bei mir, als meine Frau, und hilf mir, das aufbauen.«
»Ich kann nicht.«
»Du kannst nicht? Oder du willst nicht?«
»Ich möchte sehr gern, Jonathan. Das weißt du auch. Ich würde so gern für immer bei dir bleiben. Wenn du wüßtest, wie oft ich mir das vorstelle, wie klar ich das Bild vor mir sehe – du und ich zusammen – unsere Kinder …«
Er faßte sie bei den Schultern und neigte sich ganz nahe zu ihr. »Ich sehe es genauso, Mickey.«
»Aber wie soll es je wahr werden?«
»Es kann wahr werden. Wir müssen es nur wollen. Du kannst in Los Angeles bleiben. Keiner von uns braucht seine Pläne aufzugeben. Bleibe bei mir, Mickey. Ich bitte dich.«
Tränen schossen ihr in die Augen, aber ehe sie etwas sagen konnte, brach ein schriller Piepton in die Stille der Nacht ein.
»Was ist das?« fragte Jonathan.
Mickey griff mit der Hand in ihre Handtasche.
»Mein Piepser.«
Seine Hände glitten von ihren Schultern. Er riß ihr das kleine Gerät aus der Hand.
»Mickey!« schrie er. »Nicht einmal diese eine Nacht? Nicht einmal diese eine Nacht, die wir uns weiß Gott sauer genug verdient haben, kannst du es lassen? Hast du deshalb keinen Champagner getrunken – weil du nüchtern bleiben mußtest? Wir haben zusammen geschlafen, und du wußtest es? Wir haben auf meinen Film angestoßen, und du wußtest es? Du wußtest, daß du mich jeden Augenblick sitzenlassen würdest, um in dein verdammtes Krankenhaus
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