Herzflimmern
stand hinter Föhren und Manzanitabäumen verborgen das College. Mickey war, als befände sie sich an einem Ort mitten in All und Zeit, den menschliche Unrast nicht erreichen konnte, an einem Ort unberührter Klarheit, von dem aus sie zum Meer hinausblicken und ihre Seele freisetzen konnte.
Sie zog die Beine an und legte den Kopf auf die Knie. Sie hatte einen weiten Weg hinter sich und hatte doch auch noch einen so langen Weg vor sich. Ihr Leben erschien ihr wie ein einziges Paradoxon: Sie mußte aufgeben, was sie liebte, um das zu erreichen, was sie sich ersehnte; sie mußte einen Traum verloren geben, um den anderen zur Erfüllung zu bringen.
Aber sie wußte schon, wie ihre Entscheidung ausfallen würde. Als Chris Novack das schreckliche Mal aus ihrem Gesicht gelöscht hatte, hatte er ihr eine Chance auf ein neues Leben gegeben. Damals hatte Mickey sich gelobt, es ihm zu danken, indem sie ihm nacheiferte, seine Arbeit fortführte, das, was er ihr geschenkt hatte, anderen Unglücklichen weiter {116} reichte. Es ging hier nicht nur um ihren Traum, eine gute Ärztin zu werden; es ging auch um Schuld und Verpflichtung.
Sie würde Jonathan vermissen. Sie würde um ihn trauern. Sie würde ihn immer lieben. Aber sie wußte, was sie zu tun hatte.
Es war vielleicht der schlimmste Abend ihres Lebens. Sie mußte einen beinahe körperlichen Kampf ausfechten, um der Macht zu widerstehen, die sie aus der Wohnung hinausziehen wollte. Je näher der Zeitpunkt rückte, desto unerträglicher wurde die Qual.
Sie stellte sich Jonathan vor, wie er allein am Fuß des Glockenturms stand …
Lauf zu ihm. Nimm die Liebe an.
Nein, geh nach Hawaii. Wirf deine Zukunft nicht weg.
Achtmal schlug die Glocke über dem Campus. Der Wind trug ihren Klang über den Ozean davon. Mickey starrte mit angehaltenem Atem auf die Wohnungstür. Gleich würde er hereinstürzen und sie in seine Arme reißen.
Aber er kam nicht.
15
Es war eine gelungene Feier gewesen, die Reden nicht zu lang, feierlich, aber doch mit Humor gewürzt, so daß niemand richtig ins Gähnen gekommen war. Zufrieden gingen die vierundsiebzig frischgebackenen jungen Ärzte und Ärztinnen in den heiteren Junitag hinaus, der sie mit klarem blauen Himmel und einer milden Meeresbrise freundlich empfing. In ihren kardinalroten Roben mit den gleichfarbigen Mützen, um die Schultern die Stola in Blaßblau und Weiß, das Zeichen ihrer neuen Würde, standen sie auf den Rasenflächen des Campus mit Verwandten und Freunden zusammen.
Ruth war der strahlende Mittelpunkt einer besonders großen, lebhaften Gruppe von Menschen, die sie mit Glückwünschen überschütteten. Zwei Elternpaare, die sich zum erstenmal begegneten, umarmten einander; die Mitglieder der Familien Roth und Shapiro schlossen erste, noch etwas zaghafte Bekanntschaft. Ruths Vater schien den Tag ausgiebig zu genießen, unverhohlen stolz darauf, eine Tochter in die Welt gesetzt zu haben, die bei den Abschlußprüfungen als Beste ihres Jahrgangs abgeschnitten hatte.
»Du hast uns wirklich eine Riesenüberraschung bereitet, Ruthie«, sagte er und zog sie demonstrativ in seine Arme. »Wer hätte das gedacht, daß {117} du am Schluß die Nase ganz vorn hast! Tja, tja. Ich hoffe, du wirst jetzt erst einmal ein bißchen kürzertreten. Mit einem Kind solltest du vorläufig nicht an eine eigene Praxis denken. Dein Platz ist zu Hause. Aber vielleicht hat sich die ganze Anstrengung doch gelohnt. Vielleicht kannst du später einmal etwas mit deinem Diplom anfangen.«
Einige der jungen Leute waren allein, Mickey unter ihnen. Sie schwankte in ihren Empfindungen, während sie das Gedränge rundherum beobachtete: Einerseits neidete sie den anderen die Aufmerksamkeit, die ihnen von Verwandten und Freunden zuteil wurde, andererseits war sie froh, allein zu sein. So, dachte sie, werde ich von jetzt an immer leben – allein. Sondra würde früher oder später den Mann finden, der für sie der Richtige war; Ruth und Arnie würden sich ein gemeinsames Leben aufbauen. Sie jedoch, davon war sie überzeugt, würde ihren Weg allein gehen müssen, und sie war bereit, das zu akzeptieren.
Während sie langsam über den Rasen ging, dachte sie an Jonathan. Das letztemal hatte sie ihn gesprochen, als er angerufen und sie gebeten hatte, sich am Glockenturm mit ihm zu treffen. Seither hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Gesehen hatte sie ihn noch einmal im Fernsehen, als er seinen Oscar für den besten Dokumentarfilm entgegengenommen hatte. Er
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