Herzgesteuert: Roman (German Edition)
große knallrote Mercedes-Bus mit der auffälligen Aufschrift »Immobilien Glücksgriff – Leben im Paradies« ist ziemlich ungeeignet für die Innenstadt, aber ich brauche ihn, weil ich öfter antike Möbelstücke oder kostbare Teppiche darin transportiere.
Meine zauberhafte Fanny hat das hübscheste Strahlelächeln der Welt. Sie steht da auf der Schultreppe und harrt ihrer Chauffeurin. Als ihr klar wird, dass ich sie zu Fuß von der Schule abhole, knipst sie das bezaubernde Lächeln sofort wieder aus. Ihre Laune sinkt innerhalb von drei Sekunden auf den Nullpunkt. Zufußgehen ist für sie die größte Zumutung der Welt. Das langweiligste und überflüssigste Unterfangen, das ich jemals vorgeschlagen habe.
»Dann fahre ich eben mit dem Bus!«
Wütend will sie sich losreißen und hinter ihren Schulfreundinnen herlaufen, die alle zur Bushaltestelle rennen, aber ich halte sie an der viel zu schweren Schultasche fest. Setz dich durch, Juliane. Setz dich durch.
»O nein, mein Herzenskind. Wir gehen jetzt zusammen nach Hause! Die Sonne scheint!«
»Lass mich LOS!«
Ja, ich weiß, dass ich eine Rabenmutter bin.
Entweder ich vernachlässige das Kind, indem ich berufstätig bin, oder ich will zu Fuß gehen und mich mit meinem Kind unterhalten, damit ich einmal etwas eher weiß als meine altkluge Halbschwester Christiane.
Meine mich leider nervende, vollschlanke Halbschwester Christiane ist fünfzehn Jahre älter als ich und wohnt in dem Reihenhaus schräg gegenüber. Das ist ja auch irgendwie ganz praktisch. Nachdem sie Witwe ist und ich geschieden, hängen wir umständehalber ziemlich eng zusammen. Sie hütet mir hingebungsvoll die Fanny, was ich ja auch sehr zu schätzen weiß, aber alles hat eben eine Kehrseite: Ständig gackert und flattert sie mit den Flügeln wie eine Legehenne, ohne je ein Ei zu legen. Ehrlich gesagt, geht mir Christiane mehr und mehr auf den Geist. Aber wie heißt es im Zauberlehrling, den ich gerade mit Fanny auswendig lernen musste: »Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los! In die Ecke, Besen! Besen! Seids gewesen!« Ach, Goethe! Du kanntest Christiane nicht! Jedenfalls nicht diese! Was hättest du sie bedichtet!
Doch leider: Meine altkluge Halbschwester Christiane löst sich nicht in Luft auf, im Gegenteil: Ständig sondert sie ihren verbalen Unsinn ab:
Fanny kriegt schon einen Busen. Fanny ist mit ihren zwölf Jahren schon in der Pubertät, ganz anders als wir früher, wir wussten ja mit sechzehn noch nicht, was das überhaupt ist. Deshalb braucht Fanny eine starke Hand und konsequente Führung. Außerdem hat Fanny Bindungsängste, weil du dich hast scheiden lassen. Fanny muss erst wieder Vertrauen zu den Menschen fassen, und Fanny hat deshalb keine beste Freundin, weil sie Angst vor Trennungen hat. Fanny träumt davon, Balletttänzerin zu werden, leidet aber unter Lampenfieber und meidet die Öffentlichkeit, weil sie mit Misserfolgen nicht umgehen kann. Fanny hasst ihren Mathelehrer, was sicher daran liegt, dass er ein Mann ist, was wiederum grundsätzliche Bindungs-, Trennungs- und Misserfolgs-Traumata auslöst.
Das hat sich meine Schwester alles in Volkshochschulkursen wie »Der kleine Haus- und Hofpsychologe« oder »Kinderleicht in Kinderseelen blicken« angeeignet. Sie hat eine hervorragende Menschenkenntnis. Sie weiß und spürt alles. Nur nicht, dass sie mir mit ihrem altklugen Gluckengetue fürchterlich auf die Nerven geht.
Und dass ich es war, die ein Ei gelegt hat. Nicht sie. Sie brütet nur darauf herum.
Und deshalb hole ich heute meine Tochter ab. Zu Fuß. Damit wir Zeit zum Reden haben. Da müssen mir das Haus am Hang und die drei Prozent Provision auch mal egal sein. Drei Prozent von 1,4 Millionen Euro, das sind … mir bricht der Schweiß aus … über 40 000 Euro, die mich dieser Spaziergang kostet! Und das alles nur, weil der Penner an der Kasse stand!
Die Provision kassiert jetzt Stefan Stör, mein neuer Mitarbeiter. Ganz toll.
Nicht darüber nachdenken. Fanny ist viel wichtiger. Mit Geld nicht aufzuwiegen.
»Komm, mein Herz, gib mir deine Schultasche. Ich trage sie dir.«
»NEIN, ich will sie selber tragen!«
Zornig reißt Fanny sich los.
»Aber Liebes, ich hole dich von der Schule ab! Freust du dich denn gar nicht?!«
»Wieso muss ich immer zu Fuß gehen?«
Also Moment mal.
»Weil das gesund ist?«, wage ich vorsichtig einzuwenden. »Außerdem bist du in den letzten hundert Tagen kein einziges Mal zu Fuß gegangen!«
»Na und!«, schnauzt
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