Herzraub
der Schaulustigen direkt neben sie geschoben hatte. Sie warf dem Notarzt etwas auf Lateinisch zu, und auch dieser begann jetzt hektisch, die medizinische Fachsprache zu bemühen.
Die Zuschauer hielten weiter die Stellung, verfolgten, wie der Bewusstlose vom Rettungswagen in den Hubschrauber gehievt wurde und sahen dem kleinen Flugzeug nach, bis es in den Wolken verschwunden war.
Wenige Minuten später flog der Helikopter auf das Parkgelände des Sankt-Ansgar-Krankenhauses ein und schwebte lärmend auf den weißen, mit einem Kreuz bezeichneten Kreis hinab. Zwei Pfleger und ein Arzt standen schon mit der Rollbahre bereit. Besonnen und schnell zugleich wurde die Flugzeugtür entriegelt, der Verletzte entgurtet und umgebettet, dann raste das Team mit der Bahre und mit fliegenden Kitteln durch den Eingang.
Auf der Intensivstation wartete schon Schwester Sunny auf den Neuzugang. Die junge Schwester mit den warmen, braunen Samtaugen und der frechen Kurzhaarfrisur empfand bei jeder Einlieferung fast so etwas wie Freude: Diesmal würde sie den Schwerverletzten durchbringen, würde noch mehr und in jeder Sekunde auf ihn aufpassen. Sie würde ihn im Koma so hegen und pflegen, bis er eines Tages aufwachen und sie mit dankbar erstaunten Blicken anstrahlen würde. Dann würde er seine Arbeit wieder aufnehmen und ihr eine Postkarte schicken.
Schwester Sunny sah auf das glatte Gesicht und die vollen Lippen des bewusstlosen Motorradfahrers.
„So ein junger Mensch“, sagte sie gefühlvoll.
In der Aufnahme-Station teilte die Hubschrauber-Ärztin die Daten des Verunglückten mit: Alexander Osswald, geboren am 17. Juli 1978 in Berlin. So stand es in dem Pass, den man bei ihm gefunden hatte. In ihr Protokoll schrieb die Ärztin: „Der Transport erfolgte zwecks Transplantation.“
Für die Verantwortlichen des Sankt-Ansgar-Krankenhauses war es gar nicht so einfach gewesen, Claus Saalbach, Alexander Osswalds Vater, aufzuspüren. Unter ›Osswald‹ war man auf Celias Adresse und damit auf Marco Steinmann gestoßen, der aber zu ›leiblichen Angehörigen‹ nichts sagen konnte oder wollte. Überdies hatte sich die Bestürzung über die Unfallnachricht seines Quasi-Stiefsohns durchaus in Grenzen gehalten. Man möge doch am besten bei ›Peppermint‹, dem Privatsender, anrufen, für den Alexander Osswald arbeite, hatte er auf die ungewöhnlich drängenden Fragen des anrufenden Arztes geantwortet.
Die Recherche bei ›Peppermint‹ führte dann endlich weiter. Nein, der Vater heiße nicht Osswald, sagte man dort, das sei nur ein Künstlername, den Alexander von seiner Mutter übernommen habe. Der Vater heiße Claus Saalbach und sei bei den Öffentlich-Rechtlichen als Synchronsprecher tätig.
Als ihn der Anruf in seinem Zwei-Zimmer-Apartment in Wandsbek erreichte, war Claus Saalbach gerade in einer seiner typischen und für ihn liebsten Situationen, nämlich mit einer Frau im Bett. Mit zunehmendem Alter und abnehmenden Geldreserven waren seine Gespielinnen kontinuierlich älter geworden und ließen den eisgekühlten Champagner und die Kaviarhäppchen, die gewöhnlich den erotischen Schauplatz umrahmten, auf ihr eigenes Konto gehen. Immerhin zog der Charme seines verwitterten Gesichts, der aus blauen Augen unter schweren dunklen Brauen hervorblitzte, noch immer. Auch die wenigen Haare, der aktuellen Männermode entsprechend schwarz gefärbt, konnten seinen Schwerenöter-Appeal nicht beeinträchtigen.
„Was ist denn, Schatzi?“, maulte die zu üppige Endvierzigerin und drehte entnervt an einer Locke.
Claus Saalbach lauschte noch immer regungslos in den Hörer. Sein Gesicht war bleich geworden, er griff nach einer Zigarette, während er gleichzeitig seine Bettbekanntschaft mit einer einzigen Bewegung zum Schweigen brachte. Endlich legte er auf.
„Ich muss sofort ins Krankenhaus. Mein Sohn ist verunglückt.“ Er stieg in die Hosen, schnappte sich die anderen Sachen und stürzte zur Tür.
„Ja, aber du kannst mich doch nicht – ”, rief die Üppige. Doch die Tür war schon ins Schloss gefallen.
4
Eine Schwester führte Claus Saalbach in die Intensiv-Schleuse und wies auf die Regale.
„Ziehen Sie das bitte an.“
Alexanders Vater streifte sich einen grünen Kittel über den Anzug, knöpfte ihn im Nacken und verknotete das Band über dem Bauch. Er legte Mundschutz und Kopfhaube an und fuhr mit seinen Straßenschuhen in die großen Filzpantoffeln. Dann setzte er sich auf den Formholz-Sitz und wartete. Er kam sich vor wie
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