Herzraub
Reaktion.
„Ja.“ Saalbach wirkte wie abgestorben.
„Man denkt“, fuhr Wibke Pohl fort, „das hat doch keinen Sinn, wenn ein so junger Mensch stirbt.“
Der Trauernde sah sie unsicher an.
„Und doch kann das alles einen Sinn gewinnen. Einen tiefen Sinn sogar. Haben Sie mal daran gedacht, dass Ihr Sohn in einem anderen Menschen weiterleben könnte?“
„Wie meinen Sie das?“ Claus Saalbachs Gesicht belebte sich mit einer Spur Aufmerksamkeit.
„Sehen Sie, genau in diesem Moment wartet ein ebenso junger Mann wie Ihr Sohn auf ein lebensrettendes Organ. Er ist am Ende, kann kaum noch atmen, sitzt praktisch psychisch in der Todeszelle … Aber Sie könnten ihm helfen.“
„Ich …“
„Aber ja. Indem sie ein Organ Ihres Sohnes spenden. Sie schenken ein Stück Leben, das sonst dem Untergang geweiht wäre …“
„Ich denke, mein Sohn ist tot?“
„Ja – das heißt – das Gehirn ist tot. Sie können sich selbst davon überzeugen. Soll ich Ihnen mal das Protokoll holen?“
Saalbach machte eine matte, abwehrende Bewegung, dann sah er stumm auf seine Hände.
„Ihr Sohn muss ein wunderbarer Mensch gewesen sein“, sagte die Transplantationskoordinatorin. Ihr Ton hatte etwas Beschwörendes angenommen.
„Ja, ein wunderbarer Mensch“, wiederholte Claus Saalbach. „So strebsam im Beruf und so gefühlvoll. Allen hat er immer geholfen. Den Kollegen, den Nachbarn …“
„Sehen Sie?“ In Wibke Pohls Stimme lag fast so etwas wie Triumph. „Und wenn er auch keinen Ausweis hatte – meinen Sie nicht, dass er einem todkranken Menschen geholfen hätte?“
„Da haben Sie wohl Recht.“ Claus Saalbach wirkte tief erschöpft.
Wibke Pohl rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Leider können wir Ihren Sohn nicht länger – halten. Wir stehen unter einem furchtbaren Zeitdruck. Wenn Sie also dem andern Jungen helfen wollen, dann müssten Sie sich jetzt entscheiden.“
„Gut, dann stimme ich zu.“ Alexanders Vater schloss wie betäubt die Augen. „Wo muss ich denn unterschreiben?“ Er streckte die Hand aus.
„Sie müssen nirgends unterschreiben. Ihr Wort genügt uns.“
Wibke Pohl drückte seinen Unterarm. „Da haben Sie eine wirklich gute Entscheidung getroffen.“
„Aber …“
„Aber was?“ Die Transplantationskoordinatorin war schon an der Tür. Ihr Blick wurde unruhig.
„Ich möchte, dass nur ein einziges Organ entnommen wird.“
„Selbstverständlich.“ Wibke Pohl rannte hinaus.
Heiner Wentorf kam wieder herein und blickte seinen Freund forschend an.
„Ich habe zugestimmt“, sagte Saalbach. „Ich konnte nicht anders. Es wäre irgendwie unsozial gewesen.“
Im selben Moment traten Tränen in seine Augen. Er zog ein Goldkettchen aus der Jackett-Tasche und legte es seinem Sohn um den Hals. „Eigentlich war es als Talisman gedacht, damit Sascha wieder zum Leben erwacht …“
Heiner Wentorf sagte nichts mehr und führte seinen Freund hinaus.
Die Transplantationskoordinatorin, Doktor Nickel und Doktor Förster saßen im Ärztezimmer und machten Kaffeepause.
Wibke Pohl stieß die Luft aus. „Uff, das ist nochmal gut gegangen. Ich dachte schon, ich schaff es nicht.“
„Du schaffst es doch immer. Schließlich bist du von ›Sanitas‹ bestens geschult worden.“ Doktor Nickel sagte es mit einer unerwarteten Schärfe. Er sah müde aus.
Doktor Förster wollte etwas einwerfen, nahm aber stattdessen einen Schluck Kaffee.
„Also, dann kann ich ›Eurotransplant‹ mitteilen, dass wir definitiv was haben“, sagte Wibke Pohl. „Wäre auch ein Jammer gewesen. So ein kräftiger junger Mann.“
„Ja, tu das.“ Doktor Nickel strich sich über die Augen.
Doktor Förster schwieg. Dann nahm er seinen Kaffeebecher und verließ schnell den Raum.
8
Der Wind zerrte an der Friedhofspforte und trieb die feuchten bunten Blätter durch die Wege und Gräberreihen. Aus dem bleigrauen, verhangenen Himmel nieselte Regen.
Der Bergstedter Friedhof war klein und idyllisch, wirkte jetzt, im Oktober, allerdings so trostlos wie jeder andere. Hier wurde heute Celia Osswald verabschiedet. Es würde nur eine Trauerfeier geben, die Beisetzung der Urne mit Celias Asche sollte im engsten Kreis erfolgen. Obwohl die Schauspielerin nicht damit hatte rechnen können, dass sie so früh sterben würde, und dann noch auf so grausige Art, hatte sie ein Testament gemacht. Wahrscheinlich in erster Linie wegen der Vermögensverhältnisse, bei denen nicht nur ein Sohn, sondern auch ein sonst rechtloser
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