Echtzeit
Guten Morgen, Isabell …
Es ist vier Uhr früh … Ich weiß, dass du noch schläfst. Aber irgendwann muss man ja anfangen … mit dem Tag…
Und so fange ich eben jetzt an. Mit dir zu reden.
Guten Morgen …
Isabell …
Jetzt hast du deinen Computer eingeschaltet und entdeckst diese E-Mail. Aber das ist keine geschriebene E-Mail, das ist eine gesprochene E-Mail. Ich sitze nämlich in meinem Zimmer, vor meinem Computer und spreche in ein Mikrofon. Und das, was ich sage, kommt bei dir als E-Mail an. Ist das nicht phantastisch?! Das spart die Mühe, jedes Wort hinzuschreiben. Mit den Fingern und den Tasten, und nach drei Stunden bekommt man auch keine Gelenkschmerzen in den Händen, wenn man spricht anstatt zu schreiben. Ja, Isabell, so ist das. Heute. In meinem Zimmer. Um vier Uhr früh. Vier Uhr und fünf Minuten. Seit fünf Minuten rede ich jetzt schon mit meiner besten Freundin. Mit meiner einzigen Freundin. Das hilft mir zu vergessen. Wie weit weg du bist. Von mir. Von dort, wo ich lebe. Von dort, wo wir gemeinsam gelebt haben.
Du hast deinen Mann genommen und bist einfach weggegangen. In eine andere Stadt. Mit deinem Mann. Ohne mich zu fragen!
Verzeih, das war nur ein kleiner Scherz. Aber dass du jetzt schon zu lange fort bist, ist kein Scherz. Für mich. Dass du so lange fort bist, tut mir immer noch weh. Wenn ich an dich denke. Darum möchte ich wieder einmal mit dir reden. Und nicht nur schreiben. Du antwortest ohnehin schon so lange nicht mehr auf das, was ich dir schreibe. Also rede ich jetzt mit dir. Dann kannst du ja entscheiden, ob du antworten willst. Oder nicht.
Dazu musst du dir eben dieses neue Computersystem kaufen. Ja?! Isabell?! Wirst du das tun?! Es ist ganz einfach. Und es ist erst seit zwei Wochen auf dem Markt. Du kaufst dir ein paar Kabel und Kästchen und ein Mikrofon und schließt das Ganze an deinen Computer an und setzt dich hin und redest einfach los. Mit deiner besten Freundin. Deiner einzigen Freundin. Die ganz weit weg gezogen wohnt seit vier Jahren. Und wenn du Glück hast, dann antwortet sie. Endlich. Endlich einmal. Ja, das könntest du tun. Und wenn du dir zum 357. Mal angehört hast, dass es mir leidtut, dass ich damals deinen Stefan … Aber wir müssen jetzt wirklich nicht über diese alten dummen Zeiten reden. Wirklich nicht. Ich beschreibe dir lieber erst einmal, wo ich bin … und wo ich sitze … und wie es aussieht bei mir. In meiner neuen Wohnung.
Ja!! Ich bin in einer neuen Wohnung. Du hast ganz richtig gelesen. In einer neuen Wohnung. Ich habe ein nettes Apartment gefunden. In einem Neubau. Etwas mehr am Stadtrand gelegen. Ein Zimmer. Also eigentlich sind es ein und ein halbes Zimmer. Genau genommen eigentlich zwei Zimmer. Ein nettes Zweizimmerapartment habe ich jetzt. Mit einer kleinen Küche. In dem zweiten Zimmer. Das nutze ich also demnach als Wohnküche. Und die Fenster zeigen von der Stadt weg. Hinaus. In die Ferne. Und wenn ich mich weit aus dem Fenster lehne, dann kann ich die Sonne untergehen sehen. Das habe ich so gerne. Den Sonnenuntergang. Das haben wir! so gerne, muss es heißen. Nicht wahr?! Isabell? Wir haben den Sonnenuntergang doch immer so gerne gehabt. Wir zwei. Und wenn ich mich ganz weit aus dem Fenster lehne, dann kann ich ihn sehen. Und an dich denken. Und unsere Zeit. Früher. Na ja. Gut.
Und in meiner Wohnung habe ich mir alles recht hübsch gemacht. Du weißt doch, wir haben immer gesagt: »Männer kommen und gehen – die eigene Badewanne bleibt bestehen.« In der neuen Wohnung habe ich eine sehr lustige Badewanne. Man muss in ihr sitzen. Das Bad ist sehr interessant angelegt. Irgendwie in die Ecke gebaut. Und in einer Ecke ist eben meine Sitzbadewanne. Und da sitze ich drinnen. Abends. Wenn es mir kalt ist. Und wenn man die Knie an die Brust zieht, ist das ein sehr lustiges Gefühl.
In der alten Wohnung in der Stadt war die Badewanne ja auch in der Ecke vom Bad. In der musste man liegen. Und wenn ich sehr müde war, dann bin ich manchmal eingeschlafen. Ich hätte ertrinken können. Das kann mir in der neuen Badewanne nicht passieren. Ja. Und der Vormieter hat mir seinen Esstisch dagelassen und zwei Stühle. Korbstühle. So Korbstühle, die eigentlich im Garten stehen. Aber die hat er dagelassen und jetzt habe ich das Gefühl, dass ich im Garten sitze. In meiner Küche. Und die Korbstühle knirschen immer ein wenig, wenn man sich reinsetzt. Zwei Stück habe ich. Also wenn du mal wieder kommst, hast du einen Stuhl bei mir. Da können
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