Herzraub
hoffentlich. Noch immer. Trotz der Scheidung.
Doktor Otmar Rapp, der Leiter der Neurochirurgie, hing mit einer Pobacke auf seinem Schreibtisch und steckte sich eine Zigarre ins dicke, rote Gesicht. Sein kahler Schädel glänzte im hereinfallenden Herbstlicht. Vor ihm oder bessser: unter ihm saß sein Oberarzt Doktor Peter Förster, ein dunkler, schmaler Typ in den Vierzigern.
„Dieser Neuzugang – “
„Alexander Osswald.“
„Richtig. Der Sohn dieser Schauspielerin.“ Doktor Rapp stieß Rauch aus und sah an seinem Oberarzt vorbei. „Das dürfte gutes Spendermaterial ergeben. Haben Sie ihn der DSO schon gemeldet?“
„Nein.“
„Nein?? Was soll das heißen?“
„Eine Hirndiagnostik ist noch nicht erfolgt. Der Patient wird zurzeit intensivmedizinisch versorgt.“
„Ja, dann kommen Sie mal endlich in die Hufe.“ Doktor Rapps Gesicht schien noch röter zu werden. „Wir haben hier wertvollstes, verderbliches Patientengut, und Sie verschleudern kostbare Zeit und doktern da noch herum.“
In Doktor Försters Gesicht zuckte kein Muskel. „Es steht noch nicht fest, ob ein irreversibler Hirnschaden vorliegt.“
„Doktor Förster“ – der Ältere inhalierte heftig – „jetzt hören Sie mir mal gut zu. Wir haben es hier mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma zu tun, und Sie wollen offensichtlich in eine Fachdiskussion mit mir eintreten – “
Doktor Rapp erwartete eine Erwiderung, aber der jüngere Arzt schwieg. Er hatte seine Hände in die Kitteltaschen gesteckt und die Finger zur Faust gespannt.
„Außerdem ist das Animationsgeld auch nicht zu verachten.“
„Animationsgeld?“
„Ja, neuerdings gibt’s Animationsgeld, einen Zuschuss vom Land. Für jeden Patienten, den wir melden, 1000 Euro. Aber wenn wir weiter so lax sind, wird man uns noch die Mittel kürzen.“
„Ich nenne das Abschussgeld. Und wenn es sich rumspricht, dass wir eine Henkerklinik sind, wird das eher ein Verlustgeschäft“, stieß Doktor Förster hervor, während er versuchte, seine zitternde Stimme unter Kontrolle zu bringen.
„Na, na, was sind denn das für Ausdrücke. Nun reißen Sie sich mal zusammen.“ Doktor Rapp schüttelte missbilligend den Kopf. „Also, Schluss jetzt“, beendete er das Gespräch und stopfte die angerauchte Zigarre in den Ascher. „Sie melden diesen Patienten als potenziellen Spender an und verständigen Doktor Nickel. Er soll die erste Hirndiagnostik übernehmen. Danach machen Sie die Gegenkontrolle.“
Der Chefarzt nahm die Pobacke vom Schreibtisch und ließ sich in den Sessel fallen. Eine Antwort wartete er nicht mehr ab, er hatte schon zu einer Akte gegriffen.
„Ich sag Doktor Nickel Bescheid.“ Doktor Förster ging zur Tür. Auf dem Gang atmete er tief aus, seine zusammengepressten Lippen lockerten sich. Gut, der Hirndiagnostik konnte er sich nicht verweigern, aber den Spender würde er nicht der DSO melden, da sollten sich andere die Hände schmutzig machen.
Claus Saalbach saß noch immer zusammengesunken auf seinem Stuhl, in der vollen Intensiv-Montur. Er war etwas erschöpft, beinahe schläfrig, als ihn plötzlich eilige Schritte aufschreckten. Ein Arzt stand neben dem Bett und stellte sich mit ›Doktor Nickel‹ vor. Ein blonder Typ von Ende vierzig, athletisch, mit freundlichem Blick aus hellblauen Augen.
„Sie sind der Vater?“
„Ja.“
„Ich muss Sie leider bitten, den Raum für kurze Zeit zu verlassen. Wir müssen hier eine Untersuchung durchführen.“
„Ja.“ Claus Saalbach schlich hinaus. Alle Kraft hatte ihn verlassen, und er hatte schlagartig das Gefühl, dass sich alles zum Schlechten wenden würde.
Endlich ging die Tür wieder auf. Saalbach sah dem Arzt mit ängstlichen Augen entgegen.
„Wie steht es um meinen Sohn?“
„Wir haben ein EEG gemacht.“
„Ein EEG?“
„Ja, ein Elektroenzephalogramm, eine Messung der Gehirnströme. Und“ – der Arzt zögerte. Dann legte er ihm sanft die Hand auf die Schulter – „diese Kurve zeigt Null.“
„Null …“
„Ja, das heißt, es gibt keine Gehirntätigkeit mehr.“
Claus Saalbach starrte den Arzt entsetzt an. „Ja, aber – wie, wie wollen Sie ihm dann helfen? Können Sie ihn vielleicht operieren?“
Doktor Nickel sah wieder auf den Monitor. „Eine Operation nützt da nicht mehr. Der Druck im Gehirn ist zu groß – und das bedeutet: Wir können für Ihren Sohn nichts mehr tun.“
„Nichts mehr für ihn tun?“
Doktor Nickel ergriff Saalbachs Hände. „Das ist jetzt ein Schock
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