Herzraub
in einer Umkleidekabine zum Röntgen. Ach, wäre es doch so etwas Harmloses gewesen. Aber sein Herz klopfte wie rasend, gefährlich schnell bis in den Kopf hinein, gleichzeitig befürchtete er, dass ihm übel werden könnte. Die Angst um seinen Sohn, der Wunsch, ihn so schnell wie möglich zu sehen, kämpften mit der panischen Abwehrhaltung vor dem Ungewissen, dem Furchtbaren, möglicherweise für immer Traumatisierenden.
Claus Saalbach verkrampfte in einer ständigen Bewegung die Hände. Für andere wäre es eine Gebetshaltung gewesen, aber er war nicht religiös, nicht mal entschiedener Atheist. Mit seinen 50 Jahren hatte er erst zwei Tote gesehen. Einmal den eigenen Vater, und einmal den Vater einer nahen Freundin. Beide hatten aufgebahrt in der Kapelle gelegen, in dieser fremden Bleichheit, die ihn hatte zurückweichen lassen, nie hätte er es über sich gebracht, die Toten noch einmal zu berühren. Statt einer letzten aufwallenden Liebe hatte sogar der Leichnam seines Vaters einen leisen Ekel in ihm geweckt. Bloß nicht anfassen, vielleicht konnte man sich da noch anstecken? Später hatte jemand gesagt, dass so ein Toter doch eigentlich schön und friedlich aussehe, natürlich auch deshalb, weil man ihm das Kinn hochbinde …
Claus Saalbach verkrampfte erneut die Hände, bis die Knöchel weiß wurden. Sollte er einfach die Tür aufmachen und auf die Intensivbetten zugehen? Würde er seinen Sohn überhaupt erkennen? Er spürte, wie die Anspannung seinen Magen umzustülpen drohte. Da wurde die Tür geöffnet.
„Herr Saalbach?“ Schwester Sunny umhüllte ihn mit einem warmen Blick. „Bitte kommen Sie!“
Er betrachtete flüchtig das gewaltige Inventar dieses Maschinenraums, die unzähligen Schläuche, Kabel, Monitore. Dann schaute er wieder auf das Linoleum und folgte der Schwester.
„Hier liegt Ihr Sohn.“ Schwester Sunny legte ihm eine Hand auf den Rücken. „Ich lasse Sie jetzt allein.“
Sie schob ihm einen Stuhl hin und entfernte sich leise. Claus Saalbach sah ihr hilflos hinterher, bevor er es wagte, seinem Sohn voll ins Gesicht zu blicken.
Alexander Osswald lag wie schlafend da. Die Augen waren geschlossen, die Haut schimmerte rosig. Der Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, und nur der Beatmungsschlauch am Mund verriet, dass hier ein Mensch am Rande des Todes lebte. Claus Saalbach schaute auf den Monitor: Unaufhörlich glitt die grüne Zickzack-Linie über den Schirm, das Gerät piepte. Das bewies ihm, dass es noch Hoffnung gab. Das Herz seines Sohnes schlug.
Seltsam, dachte er, Sascha trug noch nicht mal einen Kopfverband. So ein schwerer Unfall am Kopf und kein Verband. An der Stirn war nur eine kleine Prellwunde zu sehen, an der Wange eine Schramme, die Oberlippe war aufgeplatzt. An der einen Bettseite hing ein Urinbeutel.
Aber Saschas Zustand sei lebensbedrohlich, hatte man ihm gesagt, das hätte die Computertomographie klar ergeben. Vielleicht war das Innere des Kopfes, also das Gehirn, so zerstört, dass er sterben würde. Oder so zerstört, dass er lebenslang Pflege brauchte. ›Pflegefall‹, dachte Claus Saalbach, ein schreckliches Wort, das man oft in der Zeitung las. Er fühlte ein Frösteln. Langsam näherte er seine Hand der Hand seines Sohnes und strich ihm über die Haut. Saschas Hand war warm. Wunderbar warm, gut durchblutet, dachte Claus Saalbach erleichtert und zog sich wieder zurück. Nicht, dass er seinen Sohn noch ansteckte …
Er erschrak, als jetzt ein wenig Blut aus der Wangenschramme sickerte, und atmete auf, als Schwester Sunny ans Bett des Bewusstlosen trat.
„Das ist nichts Schlimmes“, sagte sie und tupfte vorsichtig das Blut weg. „Der junge Mann schwitzt auch ein wenig“, fuhr sie fort und wischte die Schweißperlen von seiner Stirn.
„Was kann ich nur tun?“ Claus Saalbach sah die Schwester an. In seinem Gesicht spiegelte sich eine schmerzliche Verzweiflung.
„Sie k ö n n e n etwas tun.“ Schwester Sunny fasste ihn an der Schulter und blickte ihm freundlich bestimmt in die Augen. „Halten Sie seine Hand, summen Sie sein Lieblingslied – eine solche Ansprache wirkt manchmal Wunder.“
„Wird er wieder aufwachen?“
„Das wissen wir nicht. Aber solange Leben ist, ist auch Hoffnung.“
Ein Routinesatz, eine Leerformel. Aber Claus Saalbach hielt sich an den Worten fest. Und am Blick dieser braunen Samtaugen, der entschieden und weich zugleich war und ihn auf eine beruhigende Art hypnotisierte.
Ich hätte mich mehr um ihn kümmern
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