Herzraub
Schlafender, dachte er. Alexander Osswald atmete. Gleichmäßig hob und senkte sich der Brustkorb. Das Herz schlug – der Monitor zeigte beständig die gezackte Linie. Doktor Förster schüttelte den Kopf. Das Bild eines Bewusstlosen und dennoch Lebenden. Aber trotz allem würde er damit nicht durchkommen. Auch wenn er das Null-EEG verweigerte – sie würden sagen: „Bitteschön, dann machen wir stattdessen ein Null-Szintigramm, Sie werden schon sehen.“
Szintigramm, ein bildtechnisches Verfahren, um die Gehirntätigkeit sichtbar zu machen. Und was damit anlief, würde nicht nur die Mitarbeiter verärgern, sondern auch Alexander Osswald schaden. Der Patient musste eingepackt und rübergeschafft werden, mit allen Injektomaten, Perfusionen, Spritzpumpen und Beatmungsmaschinen, er musste mit Medikamenten beruhigt werden, damit er die Untersuchung überhaupt überstand, und wenn er dann nach zwei, drei Stunden zurückgebracht wurde, war er mit den Werten natürlich völlig ausgerissen, und man musste ihn wieder in eine physiologische Bahn bringen. Wenn dann die Beruhigungsmittel unter der Nachweisgrenze lagen, konnte man das Urteil endlich verkünden: hirntot.
Doktor Förster beschloss, das Null-EEG zu bestätigen. Aber keinesfalls würde er den Komatösen mit den brutalen Reflextests quälen. Hier wurde ein Sterbender gefoltert und einem letzten traumatisierenden Schock ausgesetzt. Er würde die Nicht-Reaktionen einfach so eintragen. Schlimm genug, dass der Radiologe dem jungen Mann noch ein zweites Mal das Kontrastmittel in den Hals jagen würde. Angiographie – einfach absurd. Ein Verfahren, das oft erst herbeiführte, was es beweisen sollte: den Hirntod.
Sie behaupteten, die Seele säße nur im Gehirn, und er behauptete, sie durchdringe den ganzen Körper. Beweisen konnte man weder das eine noch das andere.
Doktor Förster setzte sich ans Bett des Atmenden und legte die Hände übereinander. Er ließ Zeit vergehen, saß die Spanne ab, die er eigentlich für die Reflextests gebraucht hätte. Dann rief er den Radiologen.
„Tja, kein Blut mehr im Gehirn“, sagte der Radiologe. „Es zermatscht, zerfließt, zerläuft.“
Um 16.30 Uhr war das zweite Hirntod-Protokoll für Alexander Osswald fertig, Doktor Förster unterschrieb. Er hatte das Gefühl, als unterzeichne er wie ein Strafrichter das Todesurteil. Gleichzeitig wurde der Totenschein ausgestellt.
Somit war Alexander Osswald um 16.30 Uhr tot.
Wenn jetzt gerade Freitag gewesen und das zweite Protokoll erst am Montag fertig geworden wäre, dann hätte man ihn eben am Montag sterben lassen.
Doktor Förster kaufte sich in der Kantine ein Brötchen und ein Mineralwasser und ging damit in den Park. Erschöpft setzte er sich auf eine Bank. Er musste jetzt allein sein, nachdenken über das monströse Geschehen, an dem er beteiligt war. In Kürze würde man den jungen Mann zerteilen und ausnehmen, danach würde er sich zur Leiche verwandeln.
Der Arzt würgte an dem Brötchen herum und legte es dann zur Seite. Wie ein Verdurstender spülte er das Wasser herunter, als könne es ihn reinigen und neu beleben.
Wahrscheinlich würde man ihn demnächst rauswerfen. Für die hierarchischen Verhältnisse einer Klinik hatte er schon zuviel opponiert. Obwohl es unter demokratischen Gesichtspunkten lächerlich war. Aber in welcher Klinik gab es Demokratie? Weltanschauliche Erwägungen? Fehlanzeige. Dies war ein Ort der Tat, und sei es der falschen, tödlichen Tat. Er musste hier verschwinden, dem Milieu entfliehen, bevor es ihn vernichtete. Sich eine neue Stellung suchen und kündigen, bevor sie ihm kündigten.
Als er zurückging, sah er auf einer Bank Schwester Sunny sitzen. Ihre Augen waren gerötet.
„Geht es Ihnen nicht gut?“
„Der junge Osswald“, schluchzte die Schwester. „Jetzt muss ich wieder einen Hirntoten pflegen. Und dann wird er mir genommen und kommt als Leiche zurück.“
„Das ist sehr schwer für Sie.“
„Und Sie konnten wirklich nichts daran machen?“
„Nein, natürlich nicht.“ In Doktor Försters Gesicht blitzte Verärgerung auf. Dann senkte er den Blick. Es war, als fiele ein Vorhang.
5
Das moderne dreistöckige Apartment-Haus lag direkt am Wandsbeker Markt. Werner Danzik und sein Kollege Torsten Tügel sahen auf die Klingelschilder.
„Erster Stock“, sagte Danzik und drückte auf die mit ›Saalbach‹ beschriftete Taste.
„Ja, bitte?“ Aus der Gegensprechanlage ertönte eine sonore Männerstimme.
„Herr
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