Herzraub
für Sie. Ich weiß, dass Sie es noch gar nicht verarbeiten können. Dennoch muss ich Ihnen etwas sagen: Sie sollten sich darauf einstellen, dass wir Sie in Kürze um eine Organspende bitten.“
Der Arzt drückte noch einmal schweigend Saalbachs Hände, dann ging er schnell hinaus. Der blickte ihm fassunglos nach. Wie betäubt von einem hammerharten Schlag, griff er nach dem Bettgeländer, hielt sich fest, bis der Schwindel aus seinem Kopf wich. Er wandte sich noch einmal zu seinem Sohn um, dann stürzte er hinaus, vorbei an Schwester Sunny, die ihm besorgt hinterhersah. In der Intensiv-Schleuse riss er sich die Sachen vom Leib, dann lief er wie gehetzt aus der Klinik ins Freie.
Erst als er im Auto saß, rannen ihm die Tränen herunter. Er beugte sich nach vorn und ließ den Kopf auf das Lenkrad fallen.
Ein halbe Stunde später war Doktor Nickel wieder bei dem jungen Osswald, um die vorgeschriebenen Tests durchzuführen, mit denen der Hirntod festgestellt werden konnte. Erneut machte er ein EEG – auch diesmal zeigte der Monitor die Null-Kurve. Blut und Urin waren bereits von einem Toxikologen untersucht worden, danach lag keine Vergiftung vor; Krankheiten wie Diabetes, die einen Hirntod hätten vortäuschen können, waren ausgeschlossen worden.
Zeigte der Patient noch Reflexe? Doktor Nickel begann mit den Augen. Reizung durch Licht – die Pupillen blieben unverändert lichtstarr. Mit einem Stab berührte er die Hornhaut – kein Blinzeln. Der nächste Test: Der Arzt drehte rasch den Kopf herum. Nein, keine Augenbewegung zur Gegenseite, so wie ein Bewusstloser reagiert hätte, die Augäpfel blieben starr in derselben Stellung. Wie bei einer Puppe.
Nun stach er in die Nasenwand, dann in den Rachenraum. War der Patient noch schmerzempfindlich? Nein, es erfolgte weder Husten, Schlucken noch Würgen.
Jetzt den Trigeminus prüfen. Da würde jeder vor Schmerz aufheulen. Aber auch hier blieb Alexander Osswald stumm. Nun noch am Tubus wackeln, die Augäpfel zudrücken und 20 ml Eiswasser in die Gehörgänge kippen. Schließlich das Atemzentrum mit Kohlendioxyd provozieren.
Hoffentlich bewegte der sich nicht, bloß das nicht! Aber der scheinbar Schlafende blieb ruhig.
Doktor Nickel richtete sich erleichtert auf. Keinerlei Reaktionen, folglich empfand der Patient auch nichts. In Kürze würde ihnen ein Organangebot zur Verfügung stehen, auf das die Todkranken im Transplantationszentrum schon sehnlichst warteten. Was heißt sehnlichst: Er hatte sich selbst ein Bild gemacht, um zu sehen, wohin seine Arbeit mündete, und hatte sich mit einigen unterhalten. Sie lebten in permanenter, kräftezehrender Panik, verzweifelt vor Angst, ob sie das rettende Organ noch erreichen würden. Wer hielt es ohne Beklemmung aus, nichts als den Tod vor sich zu sehen? Und nun gab es doch einen Weg: Transplantation. Doktor Nickel sah noch einmal zum Monitor. Es war immer wieder befriedigend, scheinbar aussichtslos Kranken helfen zu können …
Er nahm sein Handy und telefonierte den Radiologen herbei.
„Na, wie sieht’s aus?“, fragte der Radiologe.
„Gut sieht’s aus. Jetzt brauchen wir nur noch deine Angio.“
Angiographie. Die bildliche Darstellung des Blutkreislaufs im Gehirn mit Hilfe eines Kontrastmittels.
Mit einer Punktionsnadel spritzte der Radiologe unter heftigem Injektionsdruck das Mittel in Alexanders Hals. Ergebnis: null, keine Durchblutung mehr.
„Dann haben wir’s: EEG null und Angio null“, sagte Doktor Nickel. „Der Hirntod ist eingetreten. Dann werd ich mal den Schriftkram fertig machen.“
Er ging in sein Büro und nahm sich das Formular ›Protokoll zur Feststellung des Hirntodes‹ vor. Nachdem er Alexander Osswalds Lebensdaten eingetragen hatte, kreuzte er die Test-Rubriken an und bescheinigte dem jungen Mann, dass er nun gestorben war.
Wie es Vorschrift ist, musste unabhängig von dem ersten Arzt ein zweiter die Tests noch einmal durchführen. Erst wenn dieser zu demselben Ergebnis kam, war der Patient wirklich tot.
Der zweite Arzt war Doktor Förster. Bewusstlos im Koma oder hirntot – wie würde Doktor Förster über Alexander entscheiden?
Doktor Förster machte wiederum ein EEG. War das möglich? Er sah genauer hin. Die Kurve war nicht völlig auf null, eine winzige Aktivität war zu erkennen. Vor ein paar Stunden hatte er dieses Ergebnis schon mal gehabt und natürlich auch eingetragen.
Der Arzt betrachtete erneut den Bewusstlosen, die glatte Haut, durch die das Blut pulsierte. Wie ein
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