Herzraub
Nachricht für Sie.“ Der Arzt machte eine Pause. „Ihr Sohn ist tot.“
„Waas?“ Claus Saalbach drehte sich unwillkürlich um und blickte auf seinen Sohn, sah ihm voll ins Gesicht, als warte er auf dessen Entscheidung. Als hinge es allein von dem Bewusstlosen ab, ob der ungeheuerliche Inhalt dieser Aussage stimmte oder nicht stimmte. Aber sein Sascha sah nicht anders aus, als er Sekunden zuvor ausgesehen hatte. Und auch nicht anders, als er gestern ausgesehen hatte.
„Wann ist er gestorben?“, stieß Saalbach hervor.
„Gestorben … äh, äh … gestorben … “, stotterte der Arzt.
„Ja, mein Freund möchte die genaue Uhrzeit wissen“, schaltete sich Heiner Wentorf ein.
Doktor Nickel raschelte in der Krankenakte herum. „Gestern um 16.30 Uhr.“
„Und dann erfahren wir das erst jetzt? Warum haben Sie Herrn Saalbach nicht gleich angerufen?“
„Wir wollten ihm eine unruhige Nacht ersparen.“ Der Arzt klappte die Akte zu. „Und schließlich ändert das ja auch nichts“, fügte er leicht verärgert hinzu.
Claus Saalbach hatte sich auf den Stuhl sinken lassen und die Hände vors Gesicht geschlagen. Von ihm war nur ein leises Wimmern zu hören.
„Nun tun Sie doch mal was“, empörte sich Heiner Wentorf. „Sie sehen doch, dass mein Freund kurz vorm Zusammenbrechen ist.“
„Ich werde ihm eine Beruhigungsspritze geben“, sagte der Arzt und flog hinaus. Minutenschnell war er zurück.
Claus Saalbach hielt ihm willenlos seinen Arm hin, dann sackte er wieder zusammen.
„Herr Saalbach?“ Doktor Nickels Stimme hatte eine beschwörende Ruhe angenommen.
Alexanders Vater richtete sich auf und blickte den Arzt aus verschleierten Augen an.
„Sie meinen, er wird nicht wieder gesund?“, flüsterte er.
„Herr Saalbach, hören Sie mich?“
„Ja.“
„Nein, Ihr Sohn wird nicht wieder gesund. Leider. Ihr Sohn ist tot. Wir haben intensivmedizinisch alles getan, was nur möglich war. Aber die Hirntests zeigen, dass die Gehirntätigkeit für immer erloschen ist. Sie können das gern einsehen.“ Doktor Nickel zögerte einen winzigen Moment. Dann sagte er: „Deshalb fragen wir Sie, ob Sie Ihren Sohn zur Organspende freigeben.“
Claus Saalbach sah verständnislos zu dem Arzt empor, während unaufhörlich Tränen über sein Gesicht liefen.
„Also, ob Sie Organe Ihres Sohnes spenden würden. Zum Beispiel Nieren oder Leber oder –“
„Das ist ja wirklich unglaublich, das ist ja unfassbar.“ Heiner Wentorf hatte seinen Arm von Saalbachs Schulter genommen und fuhr vom Stuhl hoch. „Wissen Sie, was Sie da sagen? Eben erfährt ein Vater, dass sein Kind tot ist, und im selben Moment wollen Sie sein Kind ausweiden. Haben Sie denn gar kein Gefühl? Eine Zumutung ist das, eine bodenlose Frechheit!“
Doktor Nickel wich ein wenig zurück, seine Hände umkrampften die Krankenakte.
„Bitte beraten Sie sich in aller Ruhe. Der junge Mann hatte keinen Spenderausweis, deshalb brauchen wir die Zustimmung der Angehörigen. Wir warten auf Ihre Entscheidung.“
Der Arzt eilte hinaus.
„Sie wollen also eine Antwort von dir“, sagte Heiner Wentorf langsam. „Hast du dich mit dem Thema überhaupt schon mal beschäftigt?“
Claus Saalbach wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen und zuckte mit den Schultern. Er schien etwas ruhiger zu werden.
Kurz darauf wieselte eine kleine unscheinbare Frau auf sie zu und stellte sich mit „Wibke Pohl, Transplantationskoordinatorin“ vor. Claus Saalbach hatte nur die Hälfte mitbekommen, während Heiner Wentorf diese Berufsbezeichnung noch nie gehört hatte. Die Frau war um die vierzig, mit graublonden Krisellocken und zerfurchter Mundpartie. Sie hatte was Verhärmtes, strahlte aber gleichzeitig Energie aus.
„Mein Beileid, Herr Saalbach. Das ist eine ganz, ganz schwere Situation für Sie.“ Sie drückte dem Wehrlosen die Hand. Dann drehte sie sich halb herum: „Herr – “
„Wentorf.“ In Heiner Wentorfs Augen glomm noch immer Wut.
„Richtig. Sie sind der Freund, nicht wahr? Darf ich Sie bitten, im Flur Platz zu nehmen, ich möchte jetzt mit dem Angehörigen allein sprechen.“
„Bitte.“ Heiner Wentorf wandte sich ab, machte seinem Freund aber noch ein Zeichen mit der Faust. Doch der schien nur noch aus einer unendlichen Müdigkeit zu bestehen.
„Das kommt jetzt alles sehr, sehr plötzlich für Sie. Aber wie Ihnen die Ärzte gesagt haben, war Ihr Sohn leider nicht mehr zu retten.“ Sie machte eine Pause und wartete auf eine
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