Herzraub
sehr viele, die Leben retten wollen und verzweifelten Menschen wieder neue Hoffnung geben.“
„Aber die meisten wissen gar nicht, was es bedeutet, wenn sie mal eben einen Spenderausweis unterschreiben!“
„Trotzdem“, beharrte Danzik, „wenn man selbst in einer solchen Situation steckt, nach Luft ringt, am Ersticken ist, keine Therapie mehr hilft und einen nur eine neue Lunge vor dem Tod bewahren könnte, klammert man sich dann nicht an die Möglichkeit eines ›neuen, gesunden‹ Organs?“
„Ja, das ist sehr, sehr schwer. Und ehrlich gesagt, wüsste ich selbst nicht, ob ich nicht auch so reagieren würde. Aber es ändert nichts an den Tatsachen. Die ganze Transplantiererei ist meiner Meinung nach etwas total Unnatürliches und Gewaltsames. Der Empfängerkörper wehrt sich mit aller Macht gegen das fremde Organ, will es vehement abstoßen. Damit es im Körper bleibt, müssen die Transplantierten alle zwölf Stunden bis zu zehn Tabletten nehmen, jede Infektion kann sie töten.“
„Die Immunreaktion wird bei denen also künstlich unterdrückt.“
„Genau. Und die Beträge sind horrend. Jeder transplantierte Patient kostet die Kasse rund 700 Euro pro Monat. Und nun gehen Sie noch mal auf die Seite des Spenders. Jeder sterbende Patient hat das Recht, seine Organe für sich zubehalten. Weil sie nur auf ihn passen. Weil sie zu ihm gehören. Weil sie dieser einmaligen Person von Gott gegeben wurden, um es religiös auszudrücken. – Schauen Sie nicht so erstaunt, ich bin nicht in einer Kirche.“ Laura Flemming lächelte fast amüsiert. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass der Mensch einmalig ist: Er hat einen unverwechselbaren Fingerabdruck, er hat eine Iris wie kein anderer und eine spezielle Immunreaktion. Die Iris ist übrigens nicht mal bei eineiigen Zwillingen gleich.“
Danzik sah sie Sekunden schweigend an. Einmalig – und wie! Lauras Einmaligkeit verzauberte ihn, ihre sichere Weiblichkeit und ihr leidenschaftlicher, auf den Grund dringender Intellekt. Wann hatte er zuletzt solche Gespräche geführt? Er erinnerte sich nicht. Und er sah täglich und alltäglich Tote. Fast schämte er sich, dass er weder deren noch die eigene endliche Existenz überdacht hatte.
Laura tauchte ihren Blick in seine Augen. „Der Mensch ist und bleibt ein Individuum, auch im Tode. Individuum heißt ›das Unteilbare‹. Sollte man deshalb nicht damit aufhören, Menschen zu zerteilen und auszuweiden?“
„Es ist mir jetzt klar, warum Sie bedroht werden.“
Die Journalistin gabelte entspannt eine Portion Spaghetti auf. Wahrscheinlich ist ihr Aufklärungsdrang stärker als ihre Angst, dachte Danzik.
„Ja, ich trete für die gefährdeten Bewusstlosen ein. Stellen Sie sich mal vor, Sie landen auf der Intensivstation und sind allein stehend. Kein Angehöriger ist da, der Ihre Ablehnung gegenüber den Ärzten deutlich macht.“
Danzik blickte sie versonnen an. „ Sie sind sicher nicht allein stehend …“
Laura Flemming lachte auf. „Jetzt wollen Sie natürlich wissen, ob ich verheiratet bin – ich bin geschieden.“
„Ich auch. Sind Sie enttäuscht worden?“
„Enttäuscht? Aber nein. Ich bin doch kein Opfer. Unsere Wege führten auseinander – basta!“
Danzik schwieg. Mehr würde sie jetzt nicht preisgeben, das war klar.
„Im Grunde tun mir die Transplantierten Leid“, fuhr sie fort. „Auf der Warteliste erleben sie die Hölle. Nach der Operation kommen viele ins Schleudern. Bis zum Lebensende sind sie ja an die Klinik gekettet: ständig Blutentnahmen, nach zwei Jahren noch immer alle zwölf Wochen Gewebeentnahmen, einmal im Jahr kommt der Katheter ins Herz. Dann die Schuldgefühle gegenüber dem Spender, das Fremdorgan muss adaptiert oder sogar adoptiert werden, was nicht jeder schafft. “
„Das führt sicher zu massiven Identitätsproblemen.“
„Genau. Am Anfang, durch die OP und die schweren Medikamente, sind viele aggressiv oder auch de-
pressiv. Die meisten finden jedoch einen Ausweg: Das neue Herz ist ja nur eine Pumpe, sagen sie. Maschinendenken – auf der ganzen Linie. Gepaart mit Dankbarkeit: Mein Herz heißt ›Karin Zwei‹, und jeden Tag spreche ich mit ihm.“
„Ich nehme an, die meisten verdrängen das Vorher und kümmern sich nur noch um ihr weiteres Überleben. Ich frage mich, warum sind die überhaupt derart krank geworden?“
Laura Flemming hob ihr Glas. „Nein, nicht deswegen. Es ist eine Minderheit, die ihre Leber mit Alkohol versaut und dann wie der
Weitere Kostenlose Bücher