Herzschlag der Nacht
Aristoteles lehrte, dass die Sterne aus anderem Stoff als den vier irdischen Elementen bestehen, aus einer Quintessenz, die zufällig auch die menschliche Psyche bildet. Deshalb korrespondiert der menschliche Geist mit den Sternen. Dies mag keine besonders wissenschaftliche Sichtweise sein, aber mir gefällt die Vorstellung, dass in jedem von uns ein kleines Sternenlicht ist.
Ich trage die Gedanken an Sie gleich meinem eigenen kleinen Sternenbild herum. Wie weit Sie auch weg sein mögen, teuerster Freund, sind Sie doch nie weiter entfernt als die Fixsterne in meiner Seele.
Liebe Pru,
wir bereiten uns auf eine lange Belagerung vor. Es ist ungewiss, wann ich wieder Gelegenheit finde, Ihnen zu schreiben. Dies ist nicht mein letzter Brief, nur der vorerst letzte für eine Weile. Zweifeln Sie nicht daran, dass ich eines Tages zu Ihnen zurückkehre.
Bis ich Sie wieder in meinen Armen halten darf, sind diese abgegriffenen, ärmlichen Worte die einzige Art, Sie zu erreichen. Welch dürftige Übersetzung von Liebe sie abgeben. Worte werden Ihnen niemals gerecht oder vermögen zu erfassen, was Sie mir bedeuten.
Dennoch … Ich liebe Sie. Und ich schwöre beim Licht der Sterne, dass ich diese Erde nicht verlassen werde, ehe Sie dieselben Worte nicht von mir gehört haben.
Beatrix saß auf dem Stamm einer großen, umgekippten Eiche im Wald und blickte von dem Brief auf. Dass sie weinte, bemerkte sie erst, als eine leichte Brise über ihre feuchten Wangen strich. Die Muskeln in ihrem Gesicht schmerzten, als sie versuchte sich wieder zu sammeln.
Er hatte ihr am dreizehnten Juni geschrieben, ohne zu wissen, dass sie am selben Tag an ihn schrieb. Konnte man etwas anderes als ein Zeichen darin sehen?
Einen solch tiefen, bitteren Verlust, solch eine schmerzliche Sehnsucht hatte Beatrix nicht mehr empfunden, seit ihre Eltern gestorben waren. Natürlich war es eine andere Art von Trauer, doch trug sie dieselbe Note hoffnungslosen Verlangens.
Was habe ich getan?
Sie, die ihr Leben lang rückhaltlos ehrlich gewesen war, hatte einen unverzeihlichen Betrug begangen. Und die Wahrheit würde alles nur noch schlimmer machen. Sollte Christopher Phelan jemals entdecken, dass sie ihm unter falschem Namen geschrieben hatte, würde er sie verachten. Und fand er es nie heraus, bliebe Beatrix auf immer »das Mädchen, das in einen Stall gehört«. Sonst nichts.
»Zweifeln Sie nicht dran, dass ich eines Tages zu Ihnen zurückkehre …«
Jene Worte waren Beatrix bestimmt gewesen, ganz gleich wie oft sie sich an Prudence richteten.
»Ich liebe Sie«, flüsterte sie, und ihre Tränen flossen schneller.
Wann hatten sich diese Gefühle eingeschlichen? Gütiger Gott, sie konnte sich kaum entsinnen, wie Christopher Phelan aussah, und dennoch blutete ihr Herz für ihn. Das Schlimmste war, dass Christophers Liebesschwüre höchstwahrscheinlich den Entbehrungen des Krieges geschuldet waren. Der Christopher, den sie aus den Briefen kannte, den sie liebte, könnte leicht wieder verschwinden, war er erst zurück in England.
Aus dieser Situation konnte gar nichts Gutes entspringen. Sie musste dem ein Ende setzen, durfte nicht länger vorgeben, Prudence zu sein. Es war gegenüber keinem von ihnen fair, vor allem nicht gegenüber Christopher.
Beatrix ging langsam nach Hause. Als sie Ramsay House erreichte, begegnete sie Amelia, die sich draußen mit ihrem kleinen Sohn Rye unterhielt.
»Da bist du ja!«, rief Amelia. »Kommst du mit uns zu den Ställen? Rye möchte auf seinem Pony reiten.«
»Nein, danke.« Beatrix’ Lächeln fühlte sich an, als wäre es mit Nadeln festgesteckt. Für alle in ihrer Familie war Beatrix ein fester Bestandteil ihres Lebens. In dieser Hinsicht waren sie ausnahmslos sehr gütig und freundlich. Und doch ahnte Beatrix, dass sie unausweichlich die Rolle der altjüngferlichen Tante ansteuerte.
Sie fühlte sich exzentrisch und einsam, war eine Außenseiterin, genau wie die Tiere, die sie hielt.
Ihre Gedanken vollführten einen ungelenken Sprung und riefen die Erinnerungen an sämtliche Herren herauf, denen sie bei Bällen, Abendessen und Soiréen begegnet war. An männlicher Aufmerksamkeit hatte es ihr nie gemangelt. Vielleicht hätte sie einen von ihnen ermutigen sollen, sich einfach einen geeigneten Kandidaten für eine Vermählung aussuchen und sich arrangieren. Vielleicht war, ihr eigenes Leben zu haben, es wert, mit einem Mann verheiratet zu sein, den sie nicht liebte.
Aber das wäre bloß eine andere Form von
Weitere Kostenlose Bücher