Herzschlag der Nacht
Bewahren Sie die Feder in Ihrer Tasche auf.
In diesem Moment wird mir ganz seltsam, als stünden Sie bei mir im Zimmer, während ich diese Zeilen schreibe. Als wäre meine Feder zu einem Zauberstab geworden, mit dem ich Sie herbeischwor. Wenn ich es nur sehnlich genug wünsche …
Meine teuerste Prudence,
ich trage die Rotkehlchenfeder in meiner Tasche. Woher wussten Sie, dass ich mir einen Glücksbringer wünschte, den ich mit in die Schlacht nehmen kann? Die vergangenen zwei Wochen war ich im Gefecht, schlich mit den Russen vor und zurück. Dies ist kein Kavalleriekrieg mehr, sondern einer von Ingenieuren und Artillerie. Albert blieb bei mir im Schützengraben, lief nur weg, um Nachrichten zu überbringen.
Wenn ich zwischendurch einnickte, versuchte ich mir vorzustellen, ich wäre an einem anderen Ort. Ich malte mir aus, wie Sie Ihre Füße zu nahe am Feuer hochlegen und Ihr Atem nach süßem Minzetee duftet. Ich stellte mir vor, wie ich mit Ihnen durch die Wälder von Stony Cross spaziere. Sehr gern würde ich einige der alltäglichen Wunder sehen, fürchte indes, dass ich sie ohne Sie gar nicht finden könnte. Ich brauche Ihre Hilfe, Pru, denn ich glaube beinahe, dass Sie meine einzige Chance sein könnten, wieder ein Teil der Welt zu werden.
Bisweilen bilde ich mir ein, weit mehr Erinnerungen an Sie zu haben, als ich haben kann. Immerhin gab es nur wenige Gelegenheiten, bei denen ich Ihre Gesellschaft genießen durfte: ein Tanz, eine Unterhaltung, ein Kuss. Ich wünschte, ich könnte diese Momente noch einmal erleben, denn nun würde ich sie weit höher schätzen. Wie ich überhaupt alles ganz anders zu würdigen wüsste. Letzte Nacht träumte ich wieder von Ihnen. Ich konnte Ihr Gesicht nicht sehen, aber ich fühlte Ihre Nähe. Sie flüsterten mir zu.
Das letzte Mal, als ich Sie in den Armen hielt, wusste ich im Grunde gar nicht, wer Sie wirklich sind. Übrigens auch nicht, wer ich eigentlich bin. Wir beide blickten nie hinter die Fassade, und ich schätze, das war auch besser so. Ich glaube nicht, dass ich Sie hätte verlassen können, wären meine Gefühle für Sie schon die gewesen, die ich heute empfinde.
Ich verrate Ihnen, wofür ich kämpfe: nicht für England, nicht für dessen Verbündete und auch nicht für die patriotische Sache. Letztlich kämpfe ich für die Hoffnung, wieder bei Ihnen sein zu dürfen.
Lieber Christopher,
Sie haben mich erkennen lassen, dass Worte das Wichtigste auf der Welt sind, und das in einer ehedem ungekannten Klarheit. In dem Moment, in dem Audrey mir Ihren letzten Brief gab, begann mein Herz schneller zu schlagen, und ich musste zu meinem geheimen Haus laufen, um ihn ungestört zu lesen.
Ich habe es Ihnen noch nicht erzählt, aber im letzten Frühling entdeckte ich auf einem meiner Spaziergänge ein höchst seltsames Konstrukt, einen einzelnen gemauerten Turm, der vollständig von Moos und Efeu überwachsen ist. Er steht auf einem sehr abgelegenen Teil von Lord Westcliffs Anwesen in Stony Cross. Als ich Lady Westcliff später danach fragte, erzählte sie mir, es wäre in dieser Gegend im Mittelalter üblich gewesen, geheime Häuser zu unterhalten. Der Hausherr nutzte sie beispielsweise, um dort seine Mätressen unterzubringen. Und einst versteckte sich ein Westcliff-Vorfahr in diesem geheimen Haus vor seinen eigenen blutrünstigen Gefolgsmännern. Lady Westcliff sagte mir, ich dürfte das geheime Haus jederzeit besuchen, weil es schon seit Langem nicht mehr genutzt wird, und ich gehe oft hin. Es ist mein Versteck, mein Refugium … und nun, da Sie davon wissen, ist es auch das Ihre.
Eben entzündete ich eine Kerze und stellte sie ins Fenster. Ein winziger Leitstern, dem Sie nach Hause folgen können.
Liebste Prudence,
mitten in all dem Lärm, Getümmel und Irrsinn versuche ich, an Sie in Ihrem geheimen Haus zu denken – meine Prinzessin im Turm. Und an meinen Leitstern im Fenster.
Die Dinge, die man im Krieg tun muss … Ich dachte, sie würden mit der Zeit einfacher, und zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass ich recht hatte. Ich fürchte um meine Seele. Was habe ich getan, Pru, und was werde ich noch tun müssen! Wenn ich Gott nicht bitten kann, mir zu vergeben, wie will ich es dann von Ihnen verlangen?
Lieber Christopher,
die Liebe vergibt alles. Sie brauchen nicht einmal zu bitten.
Seit Sie mir von Argo schrieben, habe ich über Sterne gelesen. Wir haben unzählige Bücher über sie, da sich mein Vater sehr für die Sternbilder interessierte.
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