Herzstoss
eingehen?«, hatte sie ihre Schwester gefragt.
»Irgendwas stimmt nicht«, sagte sie jetzt. »Ich komme vorbei.«
»Das geht nicht.« Marcy ließ den Blick zu dem großen Fenster des Pubs schweifen.
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht da bin.«
»Wo bist du denn?«
»In Irland«, sagte Marcy nach einer langen Pause.
»Was?«
»Ich bin in Irland«, wiederholte Marcy, obwohl sie genau wusste, dass Judith sie schon beim ersten Mal verstanden hatte. In Erwartung von Judiths Kreischen hielt sie den Hörer ein Stück vom Ohr weg.
»Bitte sag mir, dass das ein Witz ist.«
»Ich mache keine Witze.«
»Bist du mit jemandem zusammen dort?«
»Mir geht es gut, Judith.« Ein Schatten fiel auf das Fenster. Der Schatten blieb stehen und winkte dem Barkeeper, was dieser mit einem verstohlenen Lächeln quittierte.
»Du hast sie doch nicht mehr alle! Ich verlange, dass du auf der Stelle nach Hause kommst.«
»Das geht nicht.« Der Schatten trat in einen Lichtkegel, drehte sich um und verschwand. »O mein Gott«, keuchte Marcy und sprang auf.
»Was ist?«, fragten Vic und Judith gleichzeitig.
»Was ist los?«, fügte ihre Schwester noch hinzu.
»Mein Gott, es ist Devon!«, rief Marcy, sprang auf, stürzte zur Tür und stieß dabei mit der Hüfte gegen einen Tisch.
»Was?«
»Ich habe sie eben gesehen. Sie ist hier.«
»Marcy, beruhige dich. Du redest wirr.«
»Ich bin nicht verrückt.« Marcy stieß die schwere Tür des Pubs auf. Tränen brannten in ihren Augen, als sie die von Touristen verstopfte Straße hinauf- und hinunterblickte. Es hatte leicht angefangen zu nieseln. »Devon!«, rief sie und rannte in östlicher Richtung am Fluss entlang. »Wo bist du? Komm zurück. Bitte, komm zurück.«
»Marcy, bitte«, drängte Judith in Marcys Ohr. »Es ist nicht Devon. Du weißt, dass sie es nicht ist.«
»Ich weiß, was ich gesehen habe.« An der St. Patrick’s Bridge blieb Marcy stehen und überlegte, ob sie den Fluss überqueren sollte. »Ich sag es dir: Sie ist hier. Ich hab sie gesehen.«
»Nein, das hast du nicht«, sagte Judith sanft. »Devon ist tot, Marcy.«
»Das stimmt nicht. Sie ist hier.«
»Deine Tochter ist tot«, wiederholte Judith mit Tränen in der Stimme.
»Fahr zur Hölle!«, rief Marcy. Dann warf sie ihr Handy in den Fluss und überquerte die Brücke.
KAPITEL ZWEI
Nach wenigen Minuten hatte Marcy sich in dem Gewirr von Gassen am Ufer des Lee verirrt. Normalerweise hätte sie die engen Straßen mit den vielen kleinen Geschäften faszinierend gefunden, die Alte Welt, die sich inmitten der belebten modernen Großstadt behauptete, doch der Reiz wich rasch einer wachsenden Frustration.
»Devon!«, rief Marcy und ließ ihren Blick über die schwarzen Schirme gleiten, die überall um sie herum aufgespannt wurden. Zwei Jungen im Teenageralter trödelten vor ihr her, lachten und knufften sich, wie es Jungen überall auf der Welt taten, scheinbar ohne den Regen zu bemerken.
Als er ihre Stimme hörte, drehte einer der Jungen sich um und blickte ziellos in ihre Richtung, bevor er sich wieder seinem Freund zuwandte. Marcy war weder überrascht noch beleidigt. Sie begriff, dass diese Teenager sie einfach nicht mehr auf dem Radar hatten. Öfter, als sie sich erinnern mochte, hatte sie den gleichen vagen Blick in den Gesichtern der Freunde ihres Sohnes gesehen. Für sie existierte sie, wenn überhaupt, als ein Paar nützlicher Hände, das ihnen mittags ein Sandwich machen konnte, oder als menschlicher Anrufbeantworter zur Übermittlung wichtiger Nachrichten an ihren Sohn. Manchmal diente sie auch als Ausrede (»Ich kann heute Abend nicht kommen; meine Mom fühlt sich nicht wohl.«), öfter war sie allerdings Anlass zur Klage (»Ich kann nicht kommen. Meine Mom ist auf dem Kriegspfad.«).
»Mom, Mom, Mom«, wiederholte Marcy flüsternd. Sie strengte sich an, sich an den Klang des Wortes auf Devons Lippen zu erinnern, und sah ihre eigene Mutter vor sich, als jene noch jung und voller Leben war. Sie staunte, dass ein so einfaches Wort mit drei Buchstaben so viel bedeuten, solche Macht ausüben, so beladen sein konnte.
»Devon!«, rief sie wieder, leiser als vorher und dann noch einmal »Devon!« Diesmal brachte sie den Namen kaum über die Lippen. Tränen schossen ihr in die Augen, nasse Locken klebten an ihrer Stirn. Kurz darauf fand sie sich an der belebten Kreuzung der St. Patrick’s Street mit dem Merchant’s Quay wieder.
Vor ihr erhob sich das große Merchant’s Quay Shopping Centre, das
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