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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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versteckt hatte, und rannte, so schnell ihn seine Füße trugen, zu Tuffon.
    »Lass dein Geld stecken«, hatte Tuffon gesagt, als er Hesmat auf die Rückbank des alten Jeeps setzte und den Fahrer bezahlte, »du wirst es brauchen.« Dann warf er die Autotür zu, klopfte auf das Dach des Wagens und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Die Taliban hatten sie aus dem Auto gezogen, und sie mussten sich aufstellen, während die Männer mit den Gewehren die Papiere kontrollierten. Dann prüften die Taliban die vorgeschriebene Bartlänge, warfen einen Blick in die leeren Taschen und scheuchten sie fluchend zurück in den Wagen. Weiter bis zur nächsten Kontrolle, den nächsten Schikanen, dem nächsten Beweis dafür, dass sie wertlose Geschöpfe waren, die wie Tiere gehalten, gezählt, kontrolliert und bei Bedarf geschlachtet wurden.
    Es waren immer die gleichen Lügen, die Hesmat weiterhalfen. Er sei unterwegs zu seinem Vater. Er habe die letzten Monate in der Stadt verbracht und wolle jetzt wieder zurück. Ein abgemagerter und für seine elf Jahre viel zu kleiner Junge: Welche Gefahr konnte von ihm schon ausgehen? Meistens schubsten die Taliban ihn kurzerhand auf die Seite und konzentrierten sich auf die Erwachsenen. Dieses Mal hatten sie ihre Ruten im Zaum gehalten, und als sie wieder im Wagen saßen und endlich weiterfuhren, fiel die Anspannung von ihnen ab, und sie begannen zu reden. Hesmat war der Letzte, der von seinem Ziel erzählte.
    »London? Ein Zwerg wie du in London? Du bist wohl nicht ganz dicht im Kopf.«
    Sie wollten nach Kunduz. Einer der Männer wollte mit seiner Frau und seinem Sohn weiter nach Tachar. Aber London?
    »Du solltest dich untersuchen lassen«, lachte der Fahrer und schüttelte den Kopf.
    Sie hörten nicht mehr auf zu lachen, niemand wollte ihm glauben, und er ärgerte sich über sich selbst, kurz nach dem Abschied von Tuffon schon den ersten Fehler gemacht zu haben.
    »Vertraue niemandem«, hatte Tuffon genau wie sein Vater gesagt, doch schon jetzt erzählte er wildfremden Menschen
von seiner Flucht und musste sich von ihnen dafür auch noch verspotten lassen. Er war allein, und er musste sich davor hüten, sein Herz Fremden zu öffnen. Auch wenn er London eines Tages tatsächlich erreichte, wäre er allein. Die Freunde seines Onkels Karim würden ihm vielleicht helfen, aber seine Familie konnte ihm niemand ersetzen. Es gab niemanden mehr, der mit ihm zittern, um ihn beten, mit ihm lachen würde.
    Er war allein auf dieser Welt, und wenn ihn Zweifel plagten und die Angst kam, versuchte er, sich damit zu beruhigen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Hesmat hatte keine andere Möglichkeit mehr für sich gesehen als die Flucht. Seine Mutter war gestorben. Seinen Vater hatten sie umgebracht und sie waren auch hinter ihm her. Er hatte keine andere Wahl, er musste fliehen.
    Er konzentrierte sich auf den Plan und die handgezeichnete Karte von Tuffon. Immer und immer wieder ging er die Namen der fremden Städte durch, die er vor sich hatte. Wie auf einer Perlenkette reihten sich die Namen aneinander, die er von Tuffon gehört hatte: Duschanbe, Termez, Saratov, Moskau. Je schneller er die Namen im Geiste wiederholte, desto mehr verloren sie ihren schrecklichen Klang.
    Er stellte sich vor, wie er auf dem Roten Platz stehen würde, am Kreml. Zweimal war sein Vater dort gewesen. Er hatte Hesmat ein Foto gezeigt, auf dem er in Uniform vor dem Eingang zum Leninmausoleum stand. Ihm war die Ehrfurcht vor der Stadt und vor dem großen Namen, der hinter ihm auf einem Schild zu sehen war, anzusehen. Stundenlang hatte er ihm von der Stadt erzählt. Von den Errungenschaften des Kommunismus, den Vorteilen, die alle genossen. Es gab keine Paschtunen und Hazara, keine Usbeken und keine Tadschiken. Es gab nur Russen und sie waren alle gleich. »Eines Tages werden wir gemeinsam dorthin fahren«, hatte er seinem Sohn versprochen.

    Plötzlich wurde er unsanft aus seinen Erinnerungen gerissen, als der Fahrer plötzlich laut zu fluchen begann und so stark abbremste, dass die Taschen auf der völlig zugestopften Hutablage Hesmat unter sich begruben. Die Staubwolke vor ihnen legte sich langsam, und sie sahen den Wagen, der sie gerade überholt hatte, zerstört und rauchend in der Wüste liegen. Die Männer neben Hesmat stürzten aus dem Fahrzeug, aber der Fahrer hielt sie zurück: »Seid vorsichtig!«, schrie er. »Hier sind überall Minen!«
    Der Wagen hatte sich mehrmals überschlagen. Überall lagen

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