Hesmats Flucht
Söhne, die in den Kampf gezogen waren.
Als er erwachte, hatte sie frischen Tee bereitet und begann zu erzählen. Er war von den ersten Tagen und dem langen Fahren in den ungemütlichen und voll besetzten Autos müde und hörte ihr gerne zu. Erst am zweiten Tag begann er, in der Stadt nach jemandem zu suchen, der ihn über die Grenze bringen würde. Immer wieder sah er Gruppen, die sich mit Eseln auf den Weg in die Berge machten. Er lief hinter ihnen her und fragte nach ihrem Ziel. Niemand gab ihm eine Antwort.
»Wisst ihr, wie es zur tadschikischen Grenze geht? Nehmt mich mit, bitte! Ich kann bezahlen!«
»Verschwinde!« Manche hoben sogar ihre Ruten oder versuchten, ihn mit einem Tritt in den Hintern zu vertreiben.
Der Tag hatte ihm nur Rückschläge versetzt, und er wollte gerade in das Haus der zwei Alten, ihnen alles erzählen, sie um Hilfe bitten, als ihn plötzlich mächtige Hände von hinten auf der Straße packten und in den Wagen zerrten. Er schrie, als ihn der Talib schlug und ihn an den Haaren riss. Der Fremde
holte sein Messer aus dem Gürtel, schnitt ihm ein Büschel Haare von seinem Kopf und warf sie böse lachend aus dem Wagen.
»Du stinkst«, sagte der Mann. »Sieh dich an! Noch kein Bart, aber schmutzige und lange Haare. Wie alt bist du?«
»Elf!«, schrie Hesmat.
»Sei still, sonst wirst du mich kennenlernen.« Er trat ihm in den Hintern, als er aus dem Wagen steigen sollte, und Hesmat fiel mit dem Gesicht voraus in den Dreck. »Da hinein«, befahl der Talib, »oder soll ich dir Beine machen?«
Der Mann machte gerade eine Pause, als Hesmat in den Raum gestoßen wurde. Er saß auf seinem Stuhl, wippte seinen fetten Körper langsam vor und zurück und steckte sich ein Eis in den riesigen Mund. Mit jeder Bewegung tropfte ihm der Speichel auf das schmutzige Hemd. »Halt die Klappe und setz dich«, sagte er, als der Talib die Tür hinter Hesmat geschlossen hatte. Es gab keinen Platz zum Sitzen. Der Dicke grinste. Der Raum war voll mit Jungen in Hesmats Alter. Alle warteten darauf, was passieren würde.
Als er sein Eis endlich gegessen hatte, packte der Mann den Rasierer und hob den ersten Buben an den Haaren auf den Stuhl. Dann grub er den stumpfen Rasierer tief in die langen Haare des weinenden Jungen, und Hesmat hörte, wie sich die Rasierscheren den Weg durch die verschmutzten Haare fraßen. Dann warf der Dicke die losen Haarbüschel aus dem Fenster. Als er mit dem weinenden Jungen fertig war, war der Rasierer blutig. Er riss den Jungen praktisch die Haare vom Kopf und ließ sich von ihrem Geschrei und von ihren Tränen nicht erweichen.
»Lasst euch das eine Lehre sein«, sagte er.
Als Hesmat endlich wieder vor der Tür stand, hatte auch er eine Glatze. Sie schmerzte nicht so sehr wie die kaputte Uhr an
seinem Handgelenk. Es war das Einzige, was ihm von seinem Vater geblieben war, und jetzt war sie kaputt. Der Dicke hatte ihm die russische Uhr vom Handgelenk gerissen, als er sich geweigert hatte, sie ihm zu geben. Hesmat wusste nicht, woher er die Kraft genommen hatte, aber er hatte so lange und verbissen gekämpft, bis dem Dicken die Uhr aus der Hand geglitten war. Doch bevor er sie aufheben konnte, hatte der Mann seinen Fuß daraufgesetzt und den Schuh mit Genuss gedreht, bis das Gehäuse knackte. Hesmat hatte geweint und sich die Uhr wieder um den Arm gebunden. Ein tiefer Kratzer sollte ihn ewig an den Dicken und seinen blutigen Rasierer erinnern. Doch die Russen waren stärker, denn als sich sein Zorn gelegt hatte, sah er, dass sich die Zeiger weiterbewegten.
Die Frau hörte dem weinenden Jungen zu, als er mit blutigem und kahl rasiertem Kopf vor ihrer Tür stand und ihr in seiner Wut und Trauer vom Tod seiner Eltern erzählte. Sie weinten gemeinsam.
»Mein Mann wird dir helfen können«, sagte sie. »Er kennt viele Leute hier, und er weiß sicher, mit wem du mitgehen kannst.«
DER LANGE WEG ÜBER DEN HINDUKUSCH
Die Frau hatte ihren Mann bekniet, dem fremden Jungen aus Mazar zu helfen, und er war in die Stadt gegangen und hatte sich für Hesmat umgehört. Zwei Tage später hatte Hesmat sich von ihnen verabschiedet. Am Tag zuvor war er noch mit dem Mann in der Stadt gewesen und hatte sich das Nötigste besorgt. Der Mann kaufte ihm einen vernünftigen Beutel, den er sich quer um den Körper hängen konnte, und stopfte ihn mit getrocknetem Fleisch und ein paar russischen Lebensmitteldosen voll. Auf dem Markt fanden sie zwei alte Plastikflaschen, die der Mann lange und genau prüfte.
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