Hesmats Flucht
Österreich bleiben zu dürfen.
Heute lebt Hesmat in Innsbruck. Im Februar 2008 hat er seine Lehre als Elektriker mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen. Noch immer träumt er von einem Studium, und jedes Mal wenn ich mit ihm spreche, weiß ich, er wird sich diesen Traum erfüllen. Er fasste Vertrauen und erzählte mir bei unzähligen Treffen stundenlang seine Geschichte. Er gab mir ein »Grundgerüst«, mit dem ich arbeiten konnte, und erlaubte mir, seine Geschichte niederzuschreiben. An Teile seiner Flucht, vor allem aber seiner Kindheit, kann er sich nur verschwommen erinnern, und so musste ich auf Erzählungen und Berichte, die ich von anderen Menschen aus der Region hörte, auf Bilder, die ich bei meinem Einsatz in Afghanistan und Kabul erlebte, zurückgreifen, um dieses Grundgerüst mit Fakten und Bildern zu füllen.
Vor wenigen Monaten hat Hesmat es geschafft, seinen Bruder in Mazar ausfindig zu machen. Bis vor Kurzem telefonierten sie regelmäßig, dann wurde Hasip bei einem Terroranschlag schwer verletzt und liegt seitdem im Krankenhaus. Der Kontakt lässt sich nur schwer aufrechterhalten, auch weil die Familie seines Bruders keinen Kontakt mehr mit Hesmat will. Im Frühjahr 2006 ist sein Großvater gestorben.
Sein Onkel Karim hat die Flucht überlebt, hat es tatsächlich bis nach England geschafft, ist inzwischen aber aus London wieder nach Afghanistan zurückgekehrt. Warum, weiß Hesmat bis heute nicht, es interessiert ihn auch nicht wirklich. Ansonsten hat er mit niemandem aus seiner Großfamilie Kontakt. In ihren Augen ist er ein Verräter. Er hat das Land verlassen, sich geweigert, ihr Leben anzunehmen. Er gehört nicht mehr zu ihnen.
Hesmats Geschichte ist kein Einzelfall. Sie ist auch kein Extremfall, den ich mir herausgesucht habe. Die Geschichte hat
mich gefunden und hat mich nicht mehr losgelassen. Bei meinen Recherchen und Interviews traf ich Dutzende Menschen, die Ähnliches erleben und ertragen mussten. Erst vor Kurzem hörte ich von einem afghanischen Jungen, dessen Flucht acht Jahre dauerte. Er wurde von Afghanistan über den Iran in den Irak gespült und durchlebte Dinge, die nicht in Worte zu fassen sind. Trotzdem hat er überlebt. Überlebt wie Hesmat, der den Grund für sein Überleben nicht kennt. Hesmats Geschichte ist eine von Tausenden, die in den Köpfen der Menschen in Flüchtlingslagern und in Wohnheimen darauf warten, erzählt und vor allem gehört zu werden.
Doch Tausende Menschen können ihre Geschichte nicht mehr erzählen. Mehr als 50 Millionen Menschen (UNICEF-BERICHT, Juni 2006) befinden sich derzeit auf der Flucht. Hunderttausende sterben jährlich auf diesem Weg in die Freiheit. Sie verdursten in den Wüsten, überleben die Brutalität der Schlepper nicht, gehen in den Netzen skrupelloser Menschenhändler zugrunde. Es sind Geschichten voller enttäuschter Hoffnungen. Tausende Geschichten, die ganze Bibliotheken füllen, die vielleicht unsere Herzen berühren würden, die aber mit der Asche der Toten für immer unerzählt verloren gegangen sind.
ZEITTAFEL
Juli 1973
Unblutiger Staatsstreich gegen König Mohammad Zahir Schah. Mohammad Daud Kahn ruft die Republik Afghanistan aus und ernennt sich selbst zum Präsidenten mit diktatorischer Vollmacht.
April 1978
Putsch der Kommunisten unter Führung von Noor Mohammad Taraki. Verschiedene Stämme leisten regionalen Widerstand, der sich zu einer Rebellion auswächst.
1979
Einmarsch von Sowjettruppen in Afghanistan, um die kommunistische Regierung zu stützen. Der Bürgerkrieg wird zu einem von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan unterstützten 10-jährigen Freiheitskampf der islamischen Mudschaheddin gegen die Besatzungsmacht.
1989
Niederlage der sowjetischen Truppen und Abzug aus Afghanistan. Kämpfe zwischen Mudschaheddin und Regierung dauern an.
1992
Eroberung Kabuls durch die Mudschaheddin, Sturz des bis dahin noch regierenden kommunistischen Präsidenten Nadschibullah; neuer Staatspräsident: Burhannudin Rabbani. Blutige Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Mudschaheddin-Gruppierungen verhindern jedoch eine politische Stabilisierung.
1994
Die radikal-islamistischen Taliban beginnen, von Pakistan aus das Land zu erobern.
1996
Die Taliban haben die afghanische Hauptstadt Kabul erobert. Ex-Präsident Nadschibullah wird von den Taliban-Milizen aus dem UNO-Hauptquartier verschleppt und öffentlich erhängt.
2001
Circa 90 Prozent des Landes sind von den Taliban erobert. Der Talibanführer Mullah Mohammad Omar
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