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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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der Umgebung des Lagers unterwegs gewesen waren, hatten ihnen Mut gemacht. Je unauffälliger sie sich bewegten, desto besser würde es sein.
    Die moldawischen Kinder auf ihren Knien, schwatzten sie und hielten dem Schaffner die Fahrscheine frech unter die Nase. Er stanzte sie, ohne einen überflüssigen Blick auf die dazugehörigen Personen zu werfen, und schloss die Abteiltür wieder. Sie hatten keine großen Taschen, waren frisch gewaschen und trugen saubere Kleidung. Sie sahen aus wie eine der vielen Familien, die unterwegs in die Hauptstadt waren. Die Angst hatte bald nachgelassen, es blieb eine leichte Anspannung und Nervosität. Sie sahen Budapest aus dem Fenster, lachten über eine Gruppe Touristen, die sich in einer Sprache, die Hesmat noch nie gehört hatte, über irgendetwas in ihrem Reiseführer stritt.
    »Das ist Französisch«, sagte sein Onkel und schüttelte nur mit dem Kopf, »ein lautes Volk.«

    Hesmat fühlte, wie Ärger in ihm aufstieg. Woher wollte sein Onkel all diese Dinge wissen? Und wie kam er dazu, über diese Leute zu urteilen?
    Gleich hinter der Stadt tauchten die Namen der ersten Haltestationen auf, die sie sich gemerkt hatten. Zwei Stationen später stiegen sie aus dem Zug und schlugen sich in die verschneiten und gefrorenen Büsche. Schon nach ein paar Metern waren ihre frischen Kleider schmutzig und die Kinder quengelten wegen der Kälte. Ihre Sachen sogen die Feuchtigkeit schnell auf, und sie merkten, dass sie viel zu dünn angezogen waren. Die Wochen im Lager hatten sie vergessen lassen, wie kalt es draußen sein konnte.
    Sie fanden die alte Hütte, die ihnen die anderen am Telefon beschrieben hatten, und wie versprochen wartete der Mann auf sie. Sie bezahlten die 200 Dollar, die er für die Überfahrt über den breiten Fluss forderte, und bestiegen zwei Stunden später im Schutz der Dunkelheit das schwankende Boot. Es schaukelte über die eisigen Wellen der Donau, und jeder dachte an die tschetschenischen Freunde, die erst vor ein paar Wochen ertrunken waren. Sie klammerten sich an die Planken und verkrampften vor Angst.
    Der Alte schüttelte den Kopf. »Habt keine Angst«, sagte er leise, »das macht alles nur schlimmer.« Seine Arme stemmten sich kräftig in die Ruder.
    Als sie das slowakische Ufer sicher und trocken erreicht hatten, umspielte ein kaum sichtbares Lächeln seine Mundwinkel. »Seht ihr, ich hab’s ja gesagt.«
    Die Feuchtigkeit, die vom Fluss her über das Land zog, hüllte sie in einen Nebelstreifen, der sie vor ungewollten Blicken schützte. Der Fährmann warnte sie noch vor einem Kontrollposten, der nur wenige hundert Meter westlich von ihnen nach Flüchtlingen Ausschau hielt. Dann verschwand er wie
ein Geist im aufziehenden Nebel zurück über den großen Fluss nach Ungarn.
    Mit nassen Beinen und klammen Fingern umgingen sie den Posten über verschneite Wiesen und hielten sich an einen Bahndamm, der sie nach wenigen hundert Metern zu einer Hauptstraße führte. Es war kurz vor Mitternacht und der Verkehr war überraschend dicht. Regelmäßig tauchten Scheinwerfer aus dem Nebel auf, die sich halb blind ihren Weg nach Hause suchten. Sie mussten weiter ins Landesinnere, bevor sie daran denken konnten, ein warmes Taxi zu finden.
    Sie gingen im nassen Straßengraben und senkten die Köpfe vor den Lichtern. Nordwind setzte ein, der Schnee mitbrachte, und sie duckten sich tiefer. Die Kälte schlich sich langsam in die Knochen und brachte ihre Muskeln zum Zittern. Die Zähne der Kinder klapperten unrhythmisch zwischen den Hustenanfällen ihres Vaters. Als sie drei Stunden später die Stadt sahen, reichte ihnen der frisch gefallene Schnee bereits bis zu den Knien. Der eisige Wind trieb ihnen die Schneeflocken waagrecht in die erfrorenen Gesichter und Feuchtigkeit und Kälte hatte längst jede Pore ihrer Kleider durchdrungen. Längst waren sie aus dem Straßengraben gestiegen und bahnten sich mitten auf der verschneiten Straße ihren Weg. Seit einer Stunde hatten sie keinen Wagen mehr gesehen. Wer konnte, blieb bei diesem Wetter wohl lieber zu Hause. Als sie in die verschneite, menschenleere Stadt kamen, hingen eisige Zapfen von den Bärten der Männer und kleinere von den gefrorenen Augenbrauen der Kinder.
    Ein warmer Polizeiwagen, der sich durch den Schnee quälte, machte ihrem Frieren um vier Uhr früh ein Ende. Einmal mehr nahm man ihnen die Fingerabdrücke ab, befragte sie in einer Sprache, die keiner von ihnen beherrschte, bot ihnen dafür aber heißen Tee an. Der

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