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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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hinunter, wobei es weitere Bestandteile verlor.
    Schon jetzt pappte der gefrorene Schnee an Hesmats Turnschuhen, in denen er seine Zehen nicht mehr spürte. Sein Onkel hatte alles an Kleidung aufgetrieben, was im Lager zu bekommen war, und hatte Hesmat einen zweiten Pullover und eine Mütze organisiert.
    Auf der anderen Seite des Flusses zeichnete sich der Schatten einer Fischerhütte ab, die ihnen der Fahrer als Anhaltspunkt gezeigt hatte. Sein Onkel lief zurück in die Büsche, um die Stange zu holen, mit der sie sich fortbewegen sollten, als Hesmat die Schlepper sah. Sie waren keine 50 Meter entfernt und quälten sich mit einer Gruppe ans Ufer des schmalen Flusses, wo sie ein Schlauchboot ins Wasser ließen und die Flüchtlinge in Gruppen einteilten. Die Nacht war sternenklar, keine Spur von Nebel, und es war eisig. Der Fluss war ruhig und wälzte sich träge zwischen Österreich und der Slowakei dahin. Vereinzelt trieben Eisklumpen im schwarzen Wasser, das Hesmat Angst einjagte. Er hatte gehört, wie schnell man im eiskalten Wasser ertrinken würde, selbst wenn man schwimmen konnte. Als Nichtschwimmer würden ihn das Wasser und die Kälte sofort für immer verschlucken.
    Sein Onkel fluchte, als er zurückkam und die anderen sah. »Sie werden uns verraten«, schimpfte er. »Bis die alle drüben sind, ist längst die Polizei da. Verdammt!«
    Sie hörten ein paar Brocken Afghanisch, jemand sprach arabisch,
andere asiatisch. Die Kinder, die sie sahen, husteten unter den dünnen T-Shirts und unter einem Tuch, das sich ihre Mutter von den Schultern gezogen hatte. Die Schlepper hatten es eilig und teilten die Gruppe auf. Familien wurden getrennt, Kinder wimmerten, Frauen weinten leise, weil sie zurückbleiben und auf die nächste Überfahrt warten mussten.
    Das Boot glitt auf die andere Seite, wurde am Strick zurückgezogen und neu beladen. Nach ein paar Minuten war alles vorbei, und Hesmat konnte nicht erkennen, wohin die Flüchtlinge gezogen waren. Sie hatten zumindest überlebt, der Fluss hatte Nachsicht mit ihnen gehabt und entgegen den Befürchtungen seines Onkels war kein Polizist aufgetaucht.
    Als sie sich endlich hinter der Schneewehe aufrichten konnten, waren ihre Beine zu steif und zu schwerfällig, um sofort auf das Floß zu steigen.
    »Wir müssen uns ein wenig bewegen«, sagte Hesmat.
    »Auf jetzt!«, meinte sein Onkel schließlich nach fünf Minuten. »Wir müssen los.«
    Als Hesmat das eisige Wasser über die Schuhe strömte, glaubte er, die Kälte würde sein Herz stillstehen lassen. Das Floß hatte sofort zu schwanken begonnen, und er hatte sich instinktiv an seinen Onkel geklammert, der vor ihm balancierte und fluchte. Es ging los. Sein Onkel hatte sich abgestoßen, und während sich das Floß zwischen Untergehen, Schaukeln, Umkippen oder doch Weiterkämpfen nicht recht entscheiden konnte, trieben sie auf die Flussmitte zu. Die nassen Turnschuhe rutschten auf dem Holz aus und ständig schwappte neues Wasser über Hesmats Füße.
    »Halt still!«, fluchte sein Onkel.
    Als das andere Ufer quasi schon in Reichweite war, rutschten die Gummisohlen seiner Schuhe endgültig vom schwankenden Holz. Sein kurzer Aufschrei wurde von der Kälte erstickt,
die seinen Körper sofort überzog. Hesmats Onkel versuchte, sich mit einem gewagten Sprung ans Ufer zu retten, doch er landete im Wasser, das ihm allerdings nur bis zu den Knien ging.
    Die eisige Kälte sog das Leben in Sekundenschnelle aus Hesmats Körper. Erst als ihm sein Onkel die Hand reichte und schrie, er solle aufstehen, bemerkte er, dass ihm das Wasser nur bis zu den Oberschenkel reichte. Nass und dampfend robbte er sich über den Schnee die Uferböschung hoch.
    Österreich! Hesmat konnte es nicht glauben. Sie hatten es tatsächlich geschafft und sie umarmten sich zum ersten Mal seit Wochen. Sie hatten es gemeinsam geschafft!
    Das Lager war wie eine große Maschinerie, die sich 24 Stunden am Tag erbarmungslos drehte. Wer sich ihr entgegenstellte, wurde überrollt. Wer ihre Tücken nicht verstand, wurde verspeist. Alles war organisiert, der Ablauf routiniert und emotionslos. Die Aufseher und Zuständigen erledigten ihre Arbeit, wie es die Gewürzhändler in Mazar getan hatten. Sie begutachteten die neu angekommene »Ware«, beurteilten sie und pressten ihr ein Schild auf die Verpackung.
    Hesmat hatte auf seiner Flucht viele Lager, viele Verstecke und Gefängnisse gesehen, aber das Lager, in das er in Österreich gebracht worden war, glich keinem anderen.

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