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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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wird es zu spät sein. Außerdem wird bald zu viel Schnee liegen und es wird zu kalt. Ich habe die Information aus verlässlicher Quelle. Wir müssen abhauen, aber behalte es für dich!« Damit ging er zurück zu seinem Bett.
    War es nur ein weiteres Gerücht oder wollten sie wirklich alle zurückschicken? Was wollten sie tatsächlich mit den Flüchtlingen machen? Sie würden sie ja nicht ein Leben lang durchfüttern. Er musste Augen und Ohren offen halten. Sein Onkel hatte recht. Sie waren satt geworden, satt und zufrieden. Er hatte zugenommen, seine Geschwüre an den Beinen waren praktisch abgeheilt, und es gab eigentlich keinen Grund mehr, länger zu warten. Sie mussten weiter.
    Sein Onkel war nicht der Einzige, der von den geheimen Informationen gehört hatte. Das Gerücht hatte längst die Runde im Lager gemacht. Die Menschen wurden nervös, und mit den frischen Ausweisen in den Händen, mit denen sie sich im Umkreis des Lagers frei bewegen konnten, streckten sie ihre Fühler nach Fluchtmöglichkeiten aus. Im Lager selbst schien das niemanden zu stören. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie flüchten würden.
    »Die sind doch froh, wenn wir abhauen«, sagte einer von den Moldawiern, »wir kosten die doch nur Geld. Die werden uns sicher nicht aufhalten. Warum hätten sie uns sonst Ausweise gegeben?«
    Dann tauchten die ersten Gestalten auf, die nicht zum Lager gehörten. Sie verschenkten Zigaretten und gesellten sich zu den einzelnen Gruppen. Hesmat wusste sofort, dass es Schlepper waren. Sie boten ihre Dienste ganz offen an. Überall wurde über
die Konditionen und die Preise für den Grenzübertritt in die Slowakei und weiter nach Österreich verhandelt. Auch Hesmat, seinem Onkel und der moldawischen Familie wurde ein Angebot gemacht. Sie wollten 1000 Dollar. Geld, das keiner von ihnen hatte. Hesmat hatte noch 300 Dollar, von denen niemand etwas wusste. Sein Onkel erklärte, er habe noch 100. Die Moldawier waren blank. Der Schlepper wandte sich anderen Gruppen zu. Er hatte nicht viel Zeit, schließlich schlief die Konkurrenz nicht und immer mehr boten ihre Dienste an. Wenn er Geld verdienen wollte, musste er die Leute mit Geld finden.
    Andere Flüchtlinge versuchten es auf eigene Faust. Schon vier Tage nach den ersten Gerüchten verschwand die erste Gruppe. Zwei Tage später waren sie wieder da. Sie hatten sich einen Bus organisiert und waren mit ihren Ausweisen einfach auf die Grenze zugerollt. Natürlich wurden sie geschnappt. Als die Beamten fragten, wohin es gehen solle, sagten sie, sie wollten in eine Disco jenseits der slowakischen Grenze.
    Die Geschichte und die Dummheit der Männergruppe amüsierten das ganze Lager. Hesmat lachte Tränen, als er sich die Situation vorstellte. Eine Gruppe Flüchtlinge in einem viel zu kleinen, überladenen Bus, statt gültiger Pässe lächerliche Flüchtlingsausweise in der Hand!
    Aber die abenteuerliche Geschichte zeigte, dass das Schlimmste, was ihnen passieren konnte, war, dass man sie ins Lager zurückbrachte. Von nun an gingen die Versuche erst richtig los. Aber sie kamen alle zurück.
    Hesmat und sein Onkel hatten sich darauf geeinigt, zu warten. Irgendwann würde eine Gruppe durchkommen und sie würden vom richtigen Fluchtweg in die Slowakei erfahren. Sein Onkel wurde von Tag zu Tag nervöser. Er wollte nicht mehr warten und erklärte Hesmat schließlich, dass er gehen wollte. Allein.

    »Du bleibst hier«, sagte er, »ich mache mich auf den Weg, und wenn ich in Österreich bin, werde ich dich nachholen.«
    »Aber warum kann ich nicht mit?«, fragte Hesmat erschrocken.
    »Glaub mir«, sagte sein Onkel. »Mit dir hat es keinen Sinn. Allein bin ich schneller und muss mich nicht um dich kümmern. Glaub mir, so ist es am besten.«
    Hesmat drehte sich wortlos um und ließ Karim allein an der Hauswand stehen. Er hatte gewusst, dass er seinem Onkel nicht vertrauen konnte. Er hatte sich selbst belogen, hatte wieder Vertrauen gefasst, war dabei gewesen, ihm zu verzeihen, was er nie verzeihen konnte. Er war allein, so allein wie all die Monate während seiner Flucht. Sein Onkel war nur ein Mann mehr, der falsche Versprechungen machte und ihn fallen ließ. Er war ein Fremder, dem nur er selbst wichtig war und für den sein eigener Neffe zur Belastung wurde.
    Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Nur der Vater und der Sohn hatten überlebt. Die Mutter und die Zwillingstöchter waren hilflos ertrunken. Vom Schlepper fehlte jede Spur. Er hatte sie in ein kleines

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