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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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und setzten sich am Ortsausgang in den Wagen des Einheimischen. Die Gerüchte über die Verlegung hatten über die Angst vor dem Erfrieren gesiegt. Allein aus ihrem Lager waren an diesem Tag 16 Flüchtlinge Richtung Österreich aufgebrochen. Niemand wusste, wie viele durch den Schnee, das Eis und die Kälte auf der anderen Seite des Flusses ankommen würden.
    Der Fahrer hatte sie abgesetzt und ihnen das Boot gezeigt, das für sie alle auf einmal jedoch zu klein war. Die Kinder waren schon bis zur Hüfte nass, bevor die Mutter eingestiegen war, und als der Vater noch dazukam, drohte das wackelige Gefährt endgültig abzusaufen. Die Strömung zog am Boot, das schon jetzt mit Wasser volllief, aber der Moldawier ließ nicht mit sich reden.

    »Nein, wir gehen alle zusammen«, sagte er und hielt seine Frau zurück, die wieder ans sichere Ufer steigen wollte. »Du bleibst sitzen!«, befahl er und stieß das Boot vom Ufer ab.
    »Idiot«, fluchte Hesmats Onkel laut. »Du bringst euch noch alle um! Ihr werdet untergehen! Ihr seid zu schwer. Lass deine Frau hier, sie soll mit uns rüber!«
    Aber der Moldawier hatte sich bereits abgestoßen. Die Dunkelheit verschluckte die Freunde und minutenlang war nichts mehr zu hören. Nur der gleichmäßige Zug an dem Seil, mit dem sie das Boot wieder auf ihre Seite ziehen wollten, sagte ihnen, dass die anderen noch lebten und sich auf die andere Seite kämpften. Dann hatten die Kinder aufgeschrien und das Seil sackte durch.
    »Verdammt«, fluchte Hesmats Onkel. »Was ist passiert?«
    Er bekam keine Antwort und musste seinem Neffen dreimal in die Seite stoßen, bis der endlich ins Seil griff.
    »Zieh, verdammt noch mal!«, schimpfte er und stemmte sich mit aller Gewalt gegen das Seil. »Zieh endlich, sonst ist das Boot weg. Verdammt, Junge!«
    Sie zogen und fluchten, bis sie den Mann sahen, der aus dem Schnee auf sie zukam. An seiner Schulter baumelte ein Gewehr.
    »Lasst los«, befahl er, »und kommt mit!«
    »Wir können nicht!«, schrie Hesmat. »Sehen Sie nicht, da sind Menschen in dem Boot!«
    Aber der Grenzbeamte verstand sie nicht. »Lasst los!«, gab er ihnen zu verstehen und griff zu seiner Waffe.
    Wieder die Fingerabdrücke, wieder dieselben Fragen, wieder eine Nacht auf dem Posten und wieder ein Lager, in dem sie warmes Essen bekamen. Die einzig guten Nachrichten kamen aus Wien. Die Moldawier hatten überlebt.

    »Verdammt!«, fluchte sein Onkel. »Du hast uns mit deiner Schreierei verraten!«
    »Ich?« Hesmat war sauer. »Du hast geflucht wie ein Verrückter. Ich hab nichts gesagt.«
    Sein Onkel gab ihm eine Ohrfeige.
    Die Angst vor dem Jahreswechsel und der angeblichen Abschiebung in die Ukraine hatte sich so im Kopf seines Onkels festgesetzt, dass mit ihm kein vernünftiges Wort mehr zu wechseln war.
    In zehn Tagen begann das neue Jahr, dann war Hesmat bereits ein ganzes Jahr unterwegs. Er glaubte, schon die ersten Bartstoppeln zu spüren, wenn er sich übers Kinn rieb. Er hatte sich verändert. Er war nicht mehr das Kind, als das er aufgebrochen war. Er hatte viel zu schnell erwachsen werden müssen.

FLUCHT OHNE ENDE
    Der Fahrer konnte ihre Aufregung nicht verstehen. »100 Dollar«, sagte er immer wieder, »100 Dollar für zwei! Was wollt ihr? Ist geschenkt!«
    Hesmat und sein Onkel hörten nicht auf ihn. Der Junge gestikulierte und schüttelte immer wieder den Kopf, Karim hörte kaum zu.
    »Es geht gut, keine Angst«, sagte der Fahrer wieder, »sonst müsst ihr euch eben an die Schlepper halten.«
    Die beiden diskutierten noch immer. Die Temperatur war weiter gefallen und der Fahrer hatte ihnen eine kalte Nacht prophezeit. »Minus zehn, minus fünfzehn, außer es kommt Nebel.« Wie vereinbart hatte er sie zur Grenze gebracht und ihnen das Floß gezeigt, für das sie jetzt bezahlen sollten.
    Sein Onkel inspizierte die zusammengenagelten Holzbretter, die kaum breiter als seine Schultern waren, quer auf zwei Holzplanken gezimmert. Das Holz war morsch und rutschig und das versprochene Floß war insgesamt wohl nicht mehr als ein vor Jahren angespültes Spielzeug übermütiger Kinder. Es roch verfault, und man konnte nicht sicher sein, ob es nicht mitten auf dem Fluss auseinanderbrechen würde.

    »Es ist ja nicht weit«, sagte sein Onkel und hielt dem Fahrer das Geld hin.
    Hesmat protestierte.
    »Vorsicht«, sagte der Fahrer, »viele Schlepper heute, aber vierundzwanzigster Dezember, gutes Datum.« Damit verschwand er wieder zu seinem Auto.
    Sie zogen das Floß zum Fluss

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