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Heuchler

Heuchler

Titel: Heuchler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Franley
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hatte er in der Nacht feststellen müssen, dass es mit seiner Kondition nicht mehr zum Besten stand, und er etwas Bewegung nötig hatte.
Das Radwegenetz war gut ausgebaut und er kam schnell voran. Als er allerdings an einer Ampel halten musste und in eines der wartenden Autos blickte, durchzog ein Stich seine Brust und augenblicklich beschleunigte sich sein Puls. Das Trauma des Einsatzes war verdrängt, aber noch lange nicht verarbeitet. Hinter der verdunkelten Autoscheibe grinste ihn ein Junge mit gespielt verächtlicher Mimik an, und Peter war es, als würde der Junge sagen wollen: »Mich erschießt du nicht!« Für einen Moment dachte er, sich übergeben zu müssen, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Doch der Klumpen, in den sich sein Magen verwandelt hatte, ließ sich nicht so einfach aufweichen. Er stieg vom Rad, schob es etwas von der Straße weg und setzte sich für einige Minuten auf eine herumstehende Sitzbank. Menschen liefen vorbei und sahen ihn verstohlen an. Manchen stand Sorge, anderen Verachtung ins Gesicht geschrieben. Dann passierte, was irgendwann passieren musste, und eine Frau mittleren Alters erkannte ihn als den Polizisten, der einen unschuldigen Jungen erschossen hatte. Offensichtlich war sie zu feige, um stehen zu bleiben, aber für ein Ausspucken und das Wort »Kindermörder!« reichte ihr Mut.
Peter rief ihr kraftlos »Hallo!« hinterher, aber die Passantin war schon weitergegangen und drehte sich auch nicht mehr um. Der Platz war nicht dazu geeignet, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Mit unsicheren Beinen stand er auf, nutzte das Fahrrad als Stütze und ging langsam in eine ruhigere Seitenstraße. Dort blieb er erneut stehen und lehnte sich mit der Stirn gegen den kühlen Mast einer Straßenlaterne. Er hatte keine Ahnung, wie lange er so dastand, doch das kalte Metall vertrieb irgendwann die dunklen Wolken und er begann, wieder klarer zu denken.
Für eine Begegnung mit seinem Kollegen aus der Computerabteilung hatte er jetzt keine Kraft mehr, aber er wollte zumindest noch zu dessen Haus fahren, um die Adresse zu überprüfen.
Nach einigen hundert Metern wurde er allmählich wieder etwas sicherer und zehn Minuten später bog er in die angegebene Straße ein. Haus Nummer sechzehn war ein typischer Altbau, der die Bombenangriffe der Alliierten, im Zweiten Weltkrieg, überstanden hatte. Das Erste, was Peter auffiel, waren die für die Größe des Hauses, unverhältnismäßig vielen Klingelschilder. Anscheinend bestand das Haus nur aus Einzimmerwohnungen. Peter musste die Reihe der Klingeln zweimal durchgehen, bevor er das völlig verblichene Schild mit der Aufschrift »Henrik Krone« fand. Wenn die Unterteilung nach Stockwerken stimmte, hatte Henrik seine Wohnung im vierten Stockwerk auf der rechten Seite. Peter ging einige Schritte zurück und zählte die Fenster bis zur vierten Etage. Auf den ersten Blick hätte die Wohnung leer stehen können, denn der Schmutz auf den Scheiben war selbst von hier unten aus zu erkennen und Vorhänge gab es nicht. Doch als er noch einige Meter weiter zurückging, erkannte er eine Deckenleuchte und irgendetwas, dass vielleicht ein Bild an der Wand sein könnte. Peter überlegte gerade, ob er vielleicht doch klingeln sollte, als sich die Haustür öffnete und eine junge Frau heraustrat. Der Polizist in Peter reagierte, noch bevor er richtig darüber nachdenken konnte. Ohne Hast ging er auf die Frau zu und sprach sie in einem unverbindlichen Tonfall an: »Bitte entschuldigen Sie, ich suche meinen Freund Henrik. Er hat sich lange nicht gemeldet und ich mache mir ein wenig Sorgen. Haben Sie Herrn Krone vielleicht in der letzten Zeit gesehen?«
Die junge Frau sah ihn an, als würde sie sich schon allein wegen der Frage veralbert vorkommen. Dann strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und antwortete: »Dieser Einsiedler hat Freunde?«
»Wie meinen Sie das?« Peter konnte sich die Gegenfrage nicht verkneifen und bekam tatsächlich eine Antwort. »Ich bin seit drei Jahren seine Nachbarin und habe noch keine fünf Sätze mit ihm gesprochen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass noch nie ein anderer Mensch, außer ihm selbst, durch seine Wohnungstür gegangen ist.«
Peter stellte auf Schauspielerei um. Sein Blick wurde traurig und seine Stimme verzweifelt: »So schlimm steht es um ihn? Sie müssen wissen, dass ich selbst lange im Ausland war und schon früher gespürt habe, dass Henrik Probleme hat, aber dass es so schlimm ist …« Peter

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