Heuchler
Frau zupfte sich eine ihrer grauen Strähnen zurecht und antwortete dann etwas schwammig: »Die einen glauben, er sucht immer noch nach seinem Sohn, und die anderen meinen, er will einfach seine Ruhe haben.«
»Er sucht nach seinem Sohn?« Jetzt war es Petra, die verwundert nachfragte, da es nach Sjörens Aussage schon Jahre her war, dass dieser Sohn verschwunden war.
»Das ist eine lange Geschichte, aber wenn Sie wollen, kann ich sie kurz zusammenfassen.« Offenbar erzählte Frau Kaspar gerne Geschichten, da eine gewisse Erwartungshaltung in ihrer Stimme lag. »Wenn Sie mögen, gerne!«, forderte Mike sie auf, ohne zu drängen. Frau Kaspar überlegte, wo sie beginnen sollte, dann erzählte sie: »Björn lebte damals mit seiner Frau in einem Haus am See. Vielleicht haben Sie es bei Ihrer Anreise gesehen? Es steht ungefähr fünf Kilometer weiter, unterhalb der Küstenstraße.« Mike nickte, unterbrach sie aber nicht.
»Als Fischer war das natürlich sehr praktisch, denn er hatte es dadurch nur halb so weit wie die anderen, um zu den besten Plätzen zu kommen. Die Schattenseite war allerdings die Einsamkeit, unter der besonders die beiden Söhne litten. Vielleicht war das auch der Grund, warum sich Henrik und Noa so unterschiedlich entwickelt haben. Noa war ein Draufgänger, der sich oft in den Wäldern herumdrückte und sich dort mehr als einmal derartige Prellungen zuzog, dass diese von einem Arzt behandelt werden mussten. Ich musste ihn auch einige Male vom Unterricht ausschließen, da er vor allem nach den Wochenenden sehr aggressiv reagierte. Manchmal hatte ich auch den Eindruck, dass er unter irgendetwas litt, aber wenn man ihn darauf ansprach, rastete er regelrecht aus.
Henrik war dagegen eher introvertiert, aber nicht dumm. Er las viel und interessierte sich für alles, was mit Computern zu tun hatte, was bei seinem Vater allerdings auf wenig Gegenliebe stieß. Ich habe einmal mitbekommen, wie Björn Henrik einen verblödeten Nichtsnutz nannte.
Angefangen hat die Tragödie der Familie dann damit, dass die beiden Brüder an Noas vierzehntem Geburtstag mit ihren Fahrrädern von der Schule nach Hause fuhren und Noa nie dort ankam. Eigentlich hätten sie auf der Straße bleiben sollen, aber Henrik behauptete später, dass Noa ihn überredet hatte, die Abkürzung entlang der Steilküste zu nehmen.«
Da jetzt jeder am Tisch an Frau Kaspars Lippen hing, unterbrach sie ihre Geschichte und gönnte sich einen Schluck aus ihrem Glas. Dann blickte sie kurz in die Runde und erzählte weiter: »Henrik sagte nachher aus, dass sich ein Stock in den Speichen von Noas Vorderrad verklemmt und er dadurch die Kontrolle verloren hatte. Aber als man das Fahrrad später aus dem See holte, war das Vorderrad völlig unversehrt. Der Junge war ausgerechnet an einer Stelle die Klippen hinuntergestürzt, an der die Strömung sehr stark war. Man hat weder ihn noch seine Kleidung gefunden.« Petra hielt sich die Hand vor den Mund und auch Katja schluckte schwer.
»Hatte dieser Henrik etwas damit zu tun?«, fragte Mike, dem als Kriminalist die Sache mit dem Fahrradreifen natürlich nicht entgangen war.
Über Frau Kaspars Gesicht zuckte eine Regung, die Zweifel vermuten ließ. »Das weiß nur er selbst. Zugegeben hat er nie etwas, aber ich glaube, sein Vater hatte es ihm zugetraut. Ein Jahr später starb dann auch noch Björns Frau und anfangs hat Björn seinem Sohn auch diesen Verlust vorgeworfen. Aber mit der Zeit besann er sich wieder auf sein einzig verbliebenes Familienmitglied und die beiden rauften sich mehr oder weniger zusammen.
Mir persönlich war Henrik nie ganz geheuer! Ich unterrichtete ihn sechs Jahre lang in der deutschen Sprache und in all dieser Zeit kann ich mich an keine einzige Gefühlsregung des Jungen erinnern. Es war, als hätte er menschliche Gefühle völlig abgeschaltet und lernte wie eine Maschine. Wissen wollte er alles, aber reagiert hat er auf nichts. Bitte nicht falsch verstehen … aber, als wir in der deutschen Geschichte zum Dritten Reich kamen, hat die halbe Klasse aufgrund der Bilder aus den KZs geweint, Henrik dagegen hat im Internet nach noch schlimmeren Fotos gesucht.« Frau Kaspar schaute kurz in die Ferne, trank dann noch einen Schluck und erzählte den Rest der Geschichte: »In den folgenden Jahren ging es dann mit Björn immer weiter bergab. Den Tod seines Sohnes und seiner Frau konnte er nie richtig verarbeiten und er griff immer öfter zur Flasche. Wie es dagegen in Henrik aussah, konnte niemand so
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